Simone de Beauvoir? Ich dachte, ich wäre fertig mit ihr. Eine wichtige Lektüre während der Studienzeit, gewiss. Ich habe Romanistik studiert und ja, natürlich wollte ich mir meinen Platz im Leben erobern. Als Frau. Da war Simone eine wichtige Stimme. Die mir vor allem anderen von Dingen erzählte, die um mich herum Gang und Gäbe waren, mir jedoch fremd wie der Mars: das Leben junger Mädchen aus gutem Hause. Aber irgendwann hatte ich davon genug. Hätte sie nicht meine Großmutter sein können?
Letzten November ist ihr Buch „Die Unzertrennlichen“ erschienen, ein Schubladenwerk, von dem unsicher ist, ob sie es hätte veröffentlichen wollen. Sie schildert darin ihre erste große Freundschaft zu Zaza, Élisabeth Lacoin, einer Schulkameradin aus richtig reichem Hause, neben der Simone wie ein Bettlermädchen erschien, zumindest nach Ende des 1. Weltkrieges, in dem ihr Großvater sein Vermögen und ihr Vater seine Freiberuflichkeit verloren. Tatsächlich habe ich das Buch mehr aus Pflichtbewusstsein mitgenommen. Als Romanistin. Und auch, weil de Beauvoir noch ein Rest meiner Mädchenzeit in sich trägt. Aber dann hat mich das Buch voll erwischt.
Simone de Beauvoir kann nämlich so richtig gut schreiben. Ich vergesse das gerne, weil ich sie immer auch als Philosophin, als Feministin und als politisch engagierte Person denke. Dort ist sie klar und scharf. Aber im Schreiben entfaltet sie noch eine andere Fähigkeit: Die, Situationen und Atmosphären sehr greifbar zu beschreiben und einzelne Persönlichkeiten treffend zu charakterisieren. Was mich besonders überrascht hat, und mich gleichzeitig wieder in meine eigene Kindheit zurück brachte: Wie genau sie sich damals schon kannte. Und wie sehr alles, was ihr in ihrem erwachsenen Leben wichtig wurde, schon so früh wichtig war. Gleichzeitig war ich bestürzt, wie sehr der christliche Glaube die Entfaltung junger Menschen zu ihrer Zeit beeinflusste, und ja, ganz klar, verhinderte. Es war diese tödliche Mischung aus bürgerlichem Selbstverständnis und christlicher (wie ich denke, falsch verstandener) Prüderie, die vor allem junge Frauen in Käfige sperrte, aus denen sie nur unter krassen Bedingungen entkommen konnten: So war die plötzliche Armut der Familie Beauvoir das offene Tor für Simone, die dadurch eine Ausbildung machen, und berufstätig – d.h. frei – werden konnte. Die Enge dieser Mädchenleben hat mich bei der Lektüre eins um andere Mal erschüttert. Um so mehr, als mir klar wurde, wie viele dieser teils abstrusen Gedanken auch in meinem Mädchenkopf umgingen. Nein. Die Emanzipation ist noch lange nicht erreicht. An dem Punkt wird mir einmal mehr schwarz vor Augen. Aber das Buch habe ich mit Gewinn gelesen.
Simone de Beauvoir, Die Unzertrennlichen, Rowohlt, Hamburg 2021.
Roswitha 15. Juni 2022
danke fürs hinschauen und teilhaben lassen. ich werde dieses buch lesen, zuletzt las ich nochmal ulla hahn, das verborgene wort. ein anderes milieu, meiner herkunft näher. so viele lange vergrabene erinnerungen beschäftigten mich und ich lernte etwas über mich durch dieses buch. ein freundlicher gruß, roswitha
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Stephanie Jaeckel 15. Juni 2022
Für mich war es diese Offenbarung, dass alles, was wir für längst passé halten, noch gar nicht so lange her ist. Auch das Simone den 1. Weltkrieg erlebt hat – für mich wirklich unfassbar.
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Alexander Carmele 17. Juli 2022
Ich habe schon lange nichts mehr von Simone de Beauvoir gelesen – mit zwanzig habe ich einiges gelesen, bspw. war ich „Alle Menschen sind sterblich“ tief beeindruckt, und dann ausschnittweise die Memoiren vom Leben als Intellektuelle mit Sartre. Vielleicht ist das Buch ein guter Wiedereinstig. Danke fürs in Erinnerung Bringen! Viele Grüße!
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