Ende mit Wahrheit

Lange habe ich Wahrheiten gesucht. Ich wollte wissen, warum dies oder jenes sich „wirklich“ so zugetragen hat, wer vielleicht gelogen oder ob ich etwas übersehen, nicht gemerkt hatte. Ich wollte wissen, was richtig ist. Oder ob ich falsche Dinge geglaubt oder getan hatte.

Die lange Suche hat mich mürbe gemacht. Vielleicht, weil sich viele „Wahrheiten“ von der eigenen Perspektive aus nie – oder zumindest rückblickend nicht mehr – rekonstruieren lassen. Vermutlich auch, weil Wahrheiten, wie ich im Laufe des Lebens festgestellt habe, viel schillernder sind, als mir bei meiner Suche lieb war.

Ich bin an einem Punkt in meinem Leben, wo mich die Komplexität von Gegenwart zunehmend verwirrt. Schlimmer noch: Angst macht. Angst war noch nie der beste Ratgeber. Kino-Besucher*innen sind vermutlich mit dem fast schon übergroßen Mantra „Fear is the Mind-Killer“ vertraut. Wie verhalte ich mich fair? Der Welt gegenüber, den Tieren, den Menschen, die nah sind und den fernen? Wie spreche ich, und über was? Gibt es Wahrheiten, denen ich mich verpflichten sollte? Oder gilt es, eigene Wahrheiten zu setzten, vorsichtig, aber doch als Leitsterne für das eigene Leben? Und: wie macht man das?

Doch während mein Verstand arbeitet, Wege sucht, Hell und Dunkel unterscheidet, proben Gefühle den Aufstand. Dann passt auch mal wieder gar nichts übereinander. Manchmal bin ich schon an einem Punkt, der sich wie Resignation anfühlt. Aber dann erinnere ich mich sehr klar an mich als Kind, und das ich solche resignierten Menschen immer sehr traurig fand. Wie umsonst in der Welt.

Immer noch und immer wieder ertappe ich mich dabei, Dinge in meinem Leben „richtig“ machen zu wollen. Und mir schwant, dass ich diese Idee langsam knicken sollte. Weil „richtig“ nach Lob heischt. Oder wieder mal nach der Suche der richtigen Seite. Könnte „fair“ die Alternative sein? Und wie wäre das meinen Gefühlen beizubringen, die oft noch in archaischen Fantasien wie „Zahn um Zahn“ oder „Wie du mir, so ich dir“ argumentieren.

Ein Gedanke kommt mir, den ich gerne beiseite wische, und der Türen öffnet, die besser geschlossen bleiben: Den, dass es etwa ausmacht, wie ich was tue. Es ist nämlich keineswegs egal. Wie ich mir in meiner Überforderung schnell denke. Es zählt. Egal wie winzig. Die Wahrheit liegt möglicherweise im jeweiligen Moment. Und dass ich das tue, wozu ich mich gerade entschieden habe. Was bedeutet, bitte nichts mehr halbherzig zu tun, sondern bewusst. Ja, doch, warum nicht auch, wenn ich das Bad putze. Und aus diesen Entscheidungen dann eine eigene Haltung herstellen. Die elastisch bleibt und sich nicht an einer Wahrheit (oder einer anderen) orientiert. Könnte das halten? Oder wäre das zumindest ein Anfang?

Moon palace

Dieses Buch von Paul Auster war eines der ersten, die ich – wie ich es selber nenne – „freihändig“ gelesen habe. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Lesen war für mich eher anstrengend, das Studium verlangte mir viel ab. Zumal ich keinerlei Leseerfahrungen hatte. Warum ich Auster auswählte, warum eine Geschichte aus New York? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Nur an zwei Dinge: Dass ich es irre fand, dass hier jemand über Verlorenheit und Orientierungslosigkeit schrieb, ohne dass es nach Versagen klang. Und dass es mehr auf der Welt gab als Studium oder feste Arbeitsstelle oder irgendein anderes „geregeltes“ Leben. Und dass Zufälle groß und ebenso traurig sein können.

Ich habe die gesamte New York-Trilogie gelesen und Auster danach aus den Augen verloren. 2013 kaufte ich dann, wie mir rückblickend scheint, ziemlich aus dem Nichts heraus, sein Buch „Winter Journal“, nicht mal als Taschenbuch, auch nicht im Ramsch. Das Thema interessierte mich: Altern.

In dem Buch hat mich eine Szene berührt und über Monate über Wasser gehalten, jene, in der Auster eine Panik-Attacke beschreibt, und zwar genau so, wie ich selbst zu der Zeit zum ersten Mal erlebt hatte. Ärzte hatten für mich keinen Rat. Ich war verwirrt, hatte aber dank Auster keine Angst. Ich ahnte, dass es bei mir etwas Ähnliches war und blieb ruhig. Zum Glück sind die Attacken irgendwann ausgeblieben. Manchmal reicht tatsächlich vielleicht großmütiges Übersehen. Oder es hat sich in meinem inneren Gefüge etwas verschoben, von dem ich nichts weiß.

Dass Paul Auster mit 77 Jahren gestorben ist, fühlt sich skandalös an. Ich habe sein Leben und auch seine immer neuen Bücher nicht verfolgt, aber er war für mich ein Garant des „guten“ Amerika. Und jemand, der mein Leben scheinbar kannte, ohne dass wir uns je begegnet waren. Ich werde vielleicht beide Bücher noch einmal lesen. Und „Baumgartner“, das ich seit dem Erscheinen schon mehrmals in der Hand hatte.

eins, zwei, drei, ich

Das ist eine Strategie aus der Werbewelt, aber eine, wie ich finde, eher fröhliche. Die mal helfen kann, wenn man sich nicht sicher ist, für eine Sache Geld ausgeben zu wollen oder nicht. Oder die als Spiel an einem verregneten Nachmittag ganz ohne Brett oder andere Zutaten auskommt.

Die Herausforderung: in drei Begriffen den eigenen Geschmack, sagen wir für die Wohnungseinrichtung oder für die Vorlieben der Garderobe zu finden. Klingt simpel. Ist natürlich auch nicht dramatisch schwer. Hilft aber erstaunlich, wenn es um Entscheidungen geht. Die Idee stammt von dem amerikanischen Designer Jonathan Adler, der seine eigene Produktion als „modern american glamour“ bezeichnet (sich selbst aber als rastlos, misepetrig und sonst noch was). Ehrlichkeit ist natürlich auch hier unbedingt gefordert. Andererseits kann man so einen Stil oder eine Vorliebe entwickeln, die man gerne hätte. Wo man sich aber vielleicht nicht hintraut.

Meine drei Begriffe? western – grumpy – chic. Und Ihr so?

Pflege

Vielleicht ist schon der Begriff falsch. Weil es ein Oben und Unten gibt. Was wäre ein besseres Wort für die Betreuung sterbender Menschen? Betreuung selbst? Weil Treue darin steckt. Die es braucht, um einen manchmal langen, aber stets mühevollen Weg mitzugehen.

Ich habe sieben Monate lang Pflege in einen Kreuzberger Seniorenheim erlebt. Ich bin ernüchtert bis auf den Grund. Und schlimmer. Ich würde am liebsten endlos lamentieren. Den Kopf schütteln. Die Augen verdrehen. Hilft aber nicht. Nicht mal mir.

Was passiert da, frage ich mich. Warum schauen wir in Abgründe? Es kann doch nicht nur am Geld liegen?

Als „Angehörige“ war ich motiviert, mitzutun. Das ist natürlich nicht vorgesehen. Heimpflege ist intern koordiniert. Außenstehende stören eher. Ich kann das sogar verstehen. Aber hier stehen sich gleich schon alle im Weg. Ich kann Dinge tun und damit Personal entlasten. Dafür müsste man miteinander sprechen. Das ist überhaupt nicht vorgesehen. Und frustriert vermutlich alle Seiten.

Wenn ich zum Beispiel Lieblingsspeisen mitbringe, was ich als zusätzliche Betreuung verstehe, gehen die Pflegenden davon aus, dass ich die Mahlzeiten übernehme. Was ich natürlich nicht kann. Und bei dem stolzen Preis von 5.200 Euro im Monat auch nicht bereit bin zu leisten. „Ihr Vater hat keine Suppe mehr“ heißt es da, und ich frage mich, wie man einem alten Mann das Abendessen verweigern kann, wenn ich nicht mit seiner Lieblingssuppe angesprungen komme. Alleine schon der verdrießlich-maulende Unterton.

Nein. Ich will nicht lamentieren. Aber hier zeigt sich ein Punkt, der so rätselhaft wie überflüssig ist. Vermutlich wäre es sinnvoll, Angehörige und Pflegende ins Gespräch zu bringen. Aber das ist keine Leistung, die abgerechnet werden kann. Manche Heime bieten monatlich zumindest kurze Sprechzeiten für Angehörige. Damit sie von außen zumindest die aktuelle Lage besser einschätzen können.

Es reicht nicht, den Pflegenden die Schuld zuzuschieben. Was läuft falsch? Was können wir tun, damit es besser wird. Nur dafür sorgen, dass man selbst nicht in die Gefahr gerät, ins Heim zu kommen? Habt Ihr Erfahrungen oder Ideen? Mehr Ehrenamt? Mehr Aufklärung, bzw. Gespräche darüber, wie wir selbst alt werden wollen. Und damit natürlich auch die unangenehme Auseinandersetzung damit, das eigene Altern einzugestehen. Fängt es hier eigentlich schon an? Das wir denken, das sei alles nicht unser Bier, bis wir selbst dran sind?

Und zwischendurch noch mal schnell die Welt retten

Der Unmut ist nicht mehr zu überhören. Und die Folgen eher katastrophal: Wo Nachrichten nur noch auf Katastrophen, Krisen und Untergangsszenarien fokussieren, stumpft das Publikum irgendwann ab. Nachrichten nicht mehr zu hören, gehört fast schon zum Konsens. Und ja, wie soll man in der Mittagspause neben zwei akuten Kriegen auch noch den dritten im Sudan verdauen, der sich zusammenbraut, die Flüchtlingsströme noch überblicken oder die Umweltversäumnisse der letzten Jahre rekapitulieren, sich eine Meinung bilden oder bitte irgendetwas dagegen tun.

„Ich kann nicht mehr“ führt schnell zu „ich kann doch nichts dafür“ oder „da kann ich eh nichts ändern“, was an sich stimmt, aber dann eben doch nicht. Ich habe in den letzten Monaten komplett abgeschaltet. Ich war durch mit allem. Aber dann passiert im Grunde nur das: Ich will nichts mehr hören oder sehen, und wenn dann doch was zu mir durchsickert, bin ich genervt. Hm – ?

Vielleicht hilft es, wieder Hoffnung zu haben. Trotz allem. Also nicht der Resignation anheimfallen, dass alles nur noch schlimmer wird. Ja: Wir gehen im Nachrichtenstrom mittlerweile fast unter. Dennoch helfen diese Nachrichten gerade aus den social media Quellen, Unrecht live zu dokumentieren. Und festzuhalten. Früher war es einfacher, wegzuschauen. Wir haben es eben nicht mitbekommen. Heute strömt alles ungefiltert auf uns ein. Mit der Machbarkeit setzt eben auch eine neue Verantwortung ein. Das merken wir jetzt.

Ich habe keine Lösung. Ich versuche mich gezielter zu informieren. Um dem Strom der Empörung und der Skandalisierung, der größer und größer wird, zu entkommen. Ich will versuchen, nicht auf den Zug, dass alles schlimmer wird, aufzuspringen. Und dann die Dinge tun, die möglich sind. Wenig genug. Wach bleiben ist dennoch eine Tugend. Vor allem, wenn es wirklich dunkel wird.

Wenn es wieder wo langgeht

Die letzten Wochen stand ich im Nebel – gefühlt – obwohl der Saharastaub seit einiger Zeit meine Orientierungslosigkeit ganz gut illustriert.

Ich fand den Zustand schwer auszuhalten. Aber ich hatte den dringenden Verdacht, dass jede Aktion mich in eine falsche Richtung führen würde. Ich habe viel abgesagt und mich enorm viel gelangweilt. Was ich wirklich nicht mag (beides). Nicht mehr weiter zu wissen, ist eine extreme Herausforderung. Eben auch, weil Nicht-Tun bei uns als Faulheit oder fahrlässige Passivität gedeutet wird. Gerade meine Eltern haben mich oft mit ihren Nicht-Entscheidungen zur Verzweiflung getrieben. Aber ich merke, dass auch Entscheidungen ihre Zeit haben. Wach sein gehört zu den nötigen Fähigkeiten, solche Zeiten zu erkennen. Oder wie es Deleuze nennt, „auf der Lauer zu liegen“. Eben auch, wenn es entsetzlich langweilig ist.

Vielleicht fühlt es sich so an, wenn man mit dem Segelschiff in einer Windflaute liegt. Die Zeit dehnt sich, das Wasser wird knapp und knapper – wer jetzt die Nerven behält.

Langsam klärt sich die Sicht. Und ich konzentriere mich auf jeden einzelnen Schritt… pffffff

Trotzdem weitermachen

Eben – Baumkrone ab, aber weiter sprießen. Das fand ich neulich überzeugend, als ich im trüben Wetter meine Besorgungen machte. Es gibt gerade so viel, von dem ich denke, dass es schief hängt. Weggucken? Wegducken gar? Alternative Realitäten öffnen? Alkoholikerin werden? Oder am Brandenburger Tor kiffen?

Den ersten Schritt in die Luft machen. So geht ein Anfang. So unwahrscheinlich das klingt. Aber dafür braucht es Mut. Und eine gewisse Konzentration. Denn nicht überall ist Luft gleich dünn. Was kann ich tun für oder in dieser Welt, in der so viel schief zu gehen scheint? Und was mache ich mit mir? Einfach älter werden? Oder dem Versprechen nachgeben, besser und noch besser zu werden?

Wenn ich an meinen toten Vater denke, überlege ich, was seine Essenz war. Und ob er etwas daran hätte verbessern können. Ich weiß es nicht. Es gab viele Seiten an ihm, die ich schwierig fand. Aber wenn man sich Menschen insgesamt anschaut, war er sicher nicht einer der Schlechtesten. Worum geht es im Leben? Morgen ist auch noch ein Tag. So sagt man. Schauen wir mal.

Gehe zurück auf Los

So habe ich mir das eben auch nicht vorgestellt. Dass ich immer wieder von vorne anfange bei der Frage, wer ich eigentlich bin. Oder wo ich hin will.

Vermutlich gibt es ja auch sehr verschiedene Charaktere, dass es den einen so, den anderen eben anders ergeht. Aber seit mein Vater tot ist, habe ich das Gefühl, mich wieder neu zusammenstecken zu müssen. Ja. Müssen. Es passt nichts mehr zusammen. Es braucht eine neue Anordnung.

Doch finde ich den Ansatz nicht. Wenn ich mich betrachte von der Perspektive, „du hast jetzt keine Eltern mehr“, finde ich gar keine Idee. Es müsste etwas anderes sein. Vielleicht gar nicht unbedingt ein Verlust. Eher diese erleichternde Ansage „boarding completed“, nach der es dann endlich los geht.

Es muss ja auch gar nicht die Frage sein, wer ich bin. Sondern die viel spannendere: Wer ich sein will. Und dann sitze ich da, und starre Löcher in die Luft. Und dann miste ich irgendwann lieber die Schublade aus. Weil ich mich mit mir langweile.

Tja. Da braucht es wohl mal wieder GEDULD. Autsch. Ausgerechnet. Aber gut. Heute habe ich einen ganzen freien Tag. Und so ein Ostertag ist sicher nicht der schlechteste Ausgangspunkt, eine neue Perspektive zu finden.

Ein ganzes Leben

Wir Menschen gehören ja zu den Lebewesen mit großen Hirnen. Dennoch vergessen wir unablässig. Gerne auch wichtige Dinge. Mein Vater hat mich in den letzten Monaten oft gefragt, warum man geboren wird, wenn man am Ende doch nur stirbt. Ich hatte darauf keine Antwort. Jetzt, wo er tot ist, würde ich sagen: „weil mit dem Tod erst ein Leben – wenn vielleicht nicht vollendet, so doch wenigstens >fertig< ist“. Das ist wenig neu. Aber für mich gerade eine wichtige Erinnerung: Erst das Ende macht ein Leben komplett. Und wo wir bis zum letzten Tag noch viele offene Türen haben, die uns die Möglichkeit geben, noch einmal etwas anders zu machen, ist der Tod ein Abschluss.

Sogar ein plötzlicher Tod kann in diesem Sinn ein Leben komplett machen. Und uns im Leben die Gewissheit (und vielleicht auch den Trost) geben, dass wir nichts mehr erreichen müsssen. Sondern dass wir jeden Augenblick unseres Lebens schon vollständig sind. Ich kann mich erinnern, dass ich einen ähnlichen Gedanken schon vor acht Jahren hatte, als meine Mutter gestorben ist. Mal sehen, wie lange die Erkenntnis dieses Mal hält. Noch ein Elternteil habe ich ja nicht…