Um es vorweg zu nehmen: Nein, es wird (noch) nicht schlimmer. Die höchste Rate antisemitischer Straftagen wurde 2006 gezählt. Antisemitismus scheint – zumindest sieht es in der Statistik so aus – in Wellen über unser Land oder eben auch über Europa zu schwappen. Was es nicht unbedingt besser macht. Denn offensichtlich sind antisemitische Vorurteile fortdauernd, d.h. relativ fest verwurzelt in unserer Gesellschaft. 15-20% der Deutschen hegen solche Vorurteile, darunter ist ein – sagen wir – fester Kern von 5% auszumachen, bei dem aus Vorurteilen eine fest verwachsene Vorverurteilung geworden ist.
Der Antisemitismus von heute hat sich zudem gewandelt. Er ist zur Zeit weniger rassistisch als politisch – und hier eindeutig antiisraelisch – motiviert. Auch hier gilt es genau hinzuschauen, denn: Antisemitismus kann sich anpassen. Er „aktualisiert“ sich in neue, bis dato ungeahnte Formen, die so weit gehen, dass die AfD betont „judenfreundlich“ auftritt, „Wir sind die einzige Judenpartei“ (schon die Wortwahl!), während sie nicht müde wird, Holocaust oder nationalsozialistische Verbrechen zu verharmlosen.
Was ist zu tun? Ich glaube, ich habe hier auf den Klunkern erwähnt, dass ich während des Anschlags in Halle in den USA war. Interessant für mich: viele meiner dortigen Gesprächspartner/innen wollten sofort etwas dazu wissen. Nicht, weil sie mir als Deutsche Schuld gaben. Sondern weil sie verstehen wollten. Das hat mich insofern überrascht, als ich gemerkt habe, wie versandet in Deutschland solche Gespräche sind. Mir geht es selbst oft so. Ich schäme mich in Grund und Boden und meide das Thema. Dabei geht es oft gar nicht um Fragen wie die eigene Schuld und Spekulationen darüber, ob ich auch mitgemacht hätte oder nicht. Sondern um das genaue Hinschauen. Wie war und ist es in meiner Familie? Nicht bloß, ob meine Großväter Soldaten oder die Großmütter Parteimitglieder waren. Sondern wie konkret in der Familie über „Ausländer“ und zum Beispiel über Nicht-Christen gesprochen wird, ob es persönliche Kontakte gibt, ob Menschen schnell mit kollektiven Vorurteilen sind – es geht ja nie um „den einen Juden“ oder „die eine Jüdin“, sondern um das „Volk“, wahlweise die Religionsgemeinschaft – oder gar mit Verschwörungsfantasien. Es geht auch darum, die in den Medien immer wieder zu beobachtende Aufheizung der Stimmung zu erkennen. Gerade hier werden schnell Schlagworte verwendet, wir wissen ja, dass Nachrichten verkauft werden. Genau hinschauen, Hintergründe verstehen, eigene Meinungen auf den Prüfstand stellen und wenn möglich, mit Freund/innen und Verwandten darüber reden. Wir haben keine Schuld, wir haben eine Verantwortung, die wie mir scheint in der aktuellen Klima-Debatte, so dringend sie ist, gerne an den Rand gedrängt wird.
Ulli 29. Januar 2020
Der Antsemitismus ist viele hundert Jahre alt und ich denke, dass es immer Menschen gibt, die antsemitisch, rassistisch und ausgrenzend denken und leider auch demnach handeln. Ich habe in den letzten zwanzig Jahren mit Besorgnis beobachtet, wie hierzulande vor allem die Islamfeindlichkeit geputscht worden ist, in dem Zug wuchs auch erneut der Antisemitismus und die Fremdenfeindlichkeit per se. Meine Besorgnis auch! E in Klima der Offenheit gegenüber allen Fremden zu schaffen, dazu Respekt und Toleranz vor anderen Lebensweisen in einer Gesellschaft breiter weiter zu lassen, das ist die Aufgabe vor der wir stehen und nicht nur wir als Deutsche.Hier dürfen wir, die wir uns all dessen bewusst sind und keine Wiederholung der Geschichte wollen, nicht müde werden Gespräche zu führen, Methoden zu entwickeln, dass schon kleine Menschen lernen, dass andere nur anders, aber nicht schlecht oder böse sind und uns zu engagieren.
Ja, die Entwicklung macht mir wirklich Sorgen, mehr noch als das sich verändernde Klima!
Nur noch eins: ich finde es legitim die Poltik von einzelnen Staaten und deren Machthabern zu kritisieren, so auch die Politik Israels gegen die PalistinenserInnen. Mag es auch noch so schwierig sein und mag ich auch dann als Antisemitin beschimpft werden, die Politik Israels ist seit Jahrzehnten ausgrenzend und fremdenfeindlich. Hier muss man mit gleichem Maß messen.
Herzliche Grüße
Ulli
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Stephanie Jaeckel 29. Januar 2020
Ja, mir stößt die aktuelle Politik Israels auch auf. Aber wer sagt, dass man mit gleichem Maß messen muss? Auge um Auge? Womit wir wieder mittendrin wären in antisemitischer Tonlage, wobei ich Dir da absolut und überhaupt nichts unterstelle. Wir sehen von Deutschland aus die Dinge, die in Israel und Palästina geschehen nur sehr vom Rand aus. Dennoch, das Einzige was hilft, ist Verständigung. Kein gleiches Maß.
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Ulli 29. Januar 2020
Ich meine mit dem gleichen Maß, dass ich nicht einerseits die Politk z.B. von Ungarn infrage stellen darf, aber die von Israel nicht. Wir sehen jegliche Politik nur vom Rande her, selbst die im eigenen Land, wenn wir uns ncht hineinknieen.
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Roald Ristvedt 30. Januar 2020
Vollste Zustimmung mit einer Ergänzung: Da steht ein riesengroßer rosa Elefant im Raum, den wohl keiner sehen mag, damit man a) nicht in eine bestimmte Ecke gerückt wird oder b) Beifall von unerwünschter Seite bekommt. Und dieser rosa Elefant ist genau jener, der – gerade in Berlin – „Hamas, Hamas – Juden ins Gas!“ schreiend durch die Straßen marschiert.
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Stephanie Jaeckel 30. Januar 2020
Wieso rosa Elefant? Wir wissen doch alle, dass er da steht. Und wir wissen auch, dass ausgerechnet wir da keine Lösung parat haben können.
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Roald Ristvedt 30. Januar 2020
Warum nicht? Die Kanzlerin oder der Bundespräsident bemühen doch gerne einmal das Wort von der „Staatsräson“. Da reicht es aber nicht, immer neue Sonntagsreden zu halten, sondern da ist der Rechtsstaat gefordert. Glücklicherweise habe ich einen neuen Landeschef, der da im Bundestag diesbezüglich sehr aktiv ist.
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Stephanie Jaeckel 30. Januar 2020
Was für eine Staatsraison. Was für eine Lösung. Kannst Du konkret werden?
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Roald Ristvedt 30. Januar 2020
Morgen. Mich hat noch für ein paar Stunden der Job im Griff. 🙂
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Stephanie Jaeckel 30. Januar 2020
Ach, spar es Dir einfach.
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