Wie ich gestern schon schrieb, war ich letzte Woche in der Retrospektive von Yoko Ono, die noch bis zum 07.07. im Leipziger Museum der bildenden Künste gezeigt wird. Wer durch die riesigen Räume geht, sieht vor der Hand eine luftige Hängung – nichts wirkt gequetscht oder zu voll, es ist angenehm übersichtlich (nicht leer), fast so, wie eine schöne Landschaft auf einem Landspaziergang. Dabei sind die Themen ernst, Leben und Tod, Krieg und Frieden – die großen Rätsel und Widersprüche der Menschheit stehen im Zentrum eigentlich aller Arbeiten. Wie auch schon geschrieben, ermuntert Yoko Ono ihr Publikum, teilzuhaben an ihrer Kunst, die gezeigten Werke fortzuführen. Ein Raum ist dabei Frauen gewidmet, hier bittet die Künstlerin Frauen, ihre Gewalterfahrungen zu dokumentieren. Ihre Handlungsanweisung lautet:
Women of all ages, from all countries of the world: you are invited to send a testament of harm done to you for being a woman. Write your testament in your own language, in your own words, and write however openly you wish. … Send a photograph only of your eyes…
Wer über 50 ist, hat diesbezüglich einen langen Text zu schreiben. Einmal wegen des Alters, zum anderen, weil die Zeit, in der ich ein Mädchen und eine junge Frau war, frauenfeindlich war, wenn auch sicher oft ohne „böse“ Absicht, vielleicht sogar auch ganz ohne Absicht, die Abwertung von Frauen saß sogar in den hippiesken 70er Jahren enorm tief. Ich werde kurz den Alptraum von vorletzter Nacht notieren, denn er scheint mir tatsächlich ein direktes Echo auf Yoko Onos Arbeit zu sein, und er ist insofern selbst „harm“, also Leid, das mich viele Nächte begleitet.
Im Traum bin ich eine junge Frau im Ausland. Ich habe ein Stipendium angetreten oder einen längeren Arbeitsaufenthalt, ich richte mich gerade in einer hellen Wohnung ein, kaum, dass ich mein Glück fassen kann. Welches Land ich bereise, wird in dem Traum nicht klar. Es gibt fantastische Landschaften mit hohen Felsformationen, in die eine futuristische Megastadt eingebaut wurde. Das Wetter ist gut, fast wie in einer Wüste, manchmal denke ich an Nord- manchmal an Südamerika. Nur eins ist sicher: Ich bin sehr weit weg von zu Hause. Der Hausherr kommt, ein dunkler Mann ohne erkennbares Gesicht. Er bedrängt mich, mir wird klar, dass ich in diesem Haus keineswegs frei sein werde, sondern eine Gefangene ohne eigene Rechte. Ich versuche zu argumentieren, immerhin habe ich ein Stipendium, aber ohne Erfolg, das einzige Entgegenkommen seinerseits: er gibt mir drei Briefe und verlangt, dass ich sie in einen Briefkasten in der Stadt bringe. Auf diese Weise kann ich mich für die ersten Tage „freikaufen“. Allerdings sagt er auch, dass es kaum noch Briefkästen gebe, und ich wahrscheinlich keinen finden werde. Ich nehme die Briefe, laufe raus, gehe durch riesiges Straßen und verliere schon bald die Orientierung. Im Grunde ist klar, dass ich nicht zurückfinden werde. Dass es voraussichtlich keine Briefkästen gibt, obwohl ich mich durchfrage, und es eine Weile so aussieht, dass ich vielleicht doch einen finde. Ich habe kein Geld, nicht mal einen Ausweis dabei. Wenn kein Wunder geschieht, bin ich in der fremden Welt verloren.
Der Text ist auf Anregung eines fortlaufenden Projekts (Arising – a call, 2013/2019) der Künstlerin Yoko Ono entstanden. Ich danke ihr für die Gelegenheit, mich mit meiner Geschichte auseinanderzusetzen.
wechselweib 9. Juni 2019
Und ich danke dir für deinen offenen Text.
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