Der Welt anhaften

Ich habe beides erlebt. Und beide Male saß ich in der Berliner Philharmonie. Das erste Mal hörte ich Beethoven. Ich war berührt, weil ich Beethoven eigentlich nie gemocht hatte, aber plötzlich von der Schönheit seiner Musik überwältigt war. Gleichzeitig jedoch fühlte es sich so an, als schaue ich über einen Zaun in einen Garten, das heißt, ich war ganz nah dran, aber blieb doch außen vor. Ich war glücklich und traurig zugleich, denn der Zaun bedeutete eindeutig: „nicht für Dich“.

Jahre später saß ich wieder in der Philharmonie. Bruckners f-moll-Messe stand auf dem Programm. Und wie schon bei Beethoven wäre ich um ein Haar in der Pause gegangen. Die Überraschung war ungefähr dieselbe, doch die Überwältigung traf mich direkt: „Du musst dein Leben ändern!“ schien die Musik zu sagen, ganz so wie in Rilkes Gedicht.

Bei Sheila Heti („Motherhood“) habe ich heute etwas gelesen, das mich an die Konzerte denken ließ. Sie vermutet, sich in der Welt zu Hause zu fühlen, könne die wesentliche Grundlage für ein glückliches Leben sein. Es ginge dann, so denke ich, weniger darum, Dinge zu tun, die einen glücklich machen – ganz so als könne man Glücksgelegenheiten anhäufen wie einen Goldschatz, sondern lediglich darum, drin zu sein. Wie man reinkommt, weiß ich nicht. Dass man, einmal draußen, für immer draußen bleiben muss, scheint meine Erfahrung jedoch zu widerlegen.

 

 

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Wer die Welt erkennen will, sollte genau hinsehen. Schon als Kind habe ich mir häufig die Augen gerieben und - wenn es sein musste - noch einmal hingeschaut. Mittlerweile arbeite ich als Journalistin und als Autorin. Auch hier ist das genaue Hinsehen, keineswegs das Schreiben, die, wenn man so will, Kerntätigkeit. Doch während ich meinen Blick bei der Arbeit fokussiere und das Gesehene zu allen möglichen Richtungen hin ausleuchte, möchte ich in meinem Blog kurze Blicke wagen. Wer zurückschaut, ist herzlich willkommen.

Comments 9

  1. wattundmeer 5. April 2019

    „sich in der Welt zu Hause zu fühlen“ ist ein interessanter Gedanke und ich glaube jetzt spontan, dass das der Schlüssel sein kann. Ich fühle mich in der heutigen Welt immer weniger zuhause und das trägt nicht unbedingt zu meinem Glück bei. Und all das, was mich stöhrt auszublenden, zu ignorieren, fällt mir auch immer schwerer – man wird ja täglich damit bombadiert.

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    • Stephanie Jaeckel 5. April 2019

      Wahrscheinlich ist der Versuch, Dinge auszublenden, auf Dauer zu anstrengend und eben auch frustrierend. Denn wie Du schreibst, diese Störungen sind hartnäckig und laut wie Bomben. Ich habe mir mal irgendwann vorgesagt – um mich weitgehend (klappt längst nicht immer) dran zu halten: Alle Störungen gehören dazu. Egal wann, was, wie oder wer. Ich habe dadurch viel mehr Raum bekommen, auch wenn ich immer noch an Grenzen stoße…

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  2. Anhora 5. April 2019

    Das habe ich nicht ganz verstanden: Wieso wolltest du bei den Konzerten um ein Haar in der Pause gehn, wenn dich die Musik angesprochen hat? Und warum fühltest du dich wie hinter einem Zaun? Wenn die Musik deine Seele berührt hat, dann konnte doch nichts dazwischen gewesen sein?
    Das passende Leben zu finden, ist in der Tat eine Kunst und erfordert manchmal viel Mut für Veränderungen. Lohnt sich aber unbedingt. Meine Erfahrung. 🙂

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    • Stephanie Jaeckel 5. April 2019

      Ah, ja, das ist eine Spezialität von Konzerten des Deutschen Symphonie Orchesters in Berlin: Sie spielen gerne zwei oder drei Stücke aus verschiedenen Epochen, vor der Pause oft das eher zeitgenössische. Weil ich Beethoven nicht so prickelnd fand und Bruckner auch nicht, war ich in der Pause kurz davon, nach Hause zu fahren. – Warum ich mich hinter dem Zaun gefühlt habe, weiß ich nicht. Ich konnte die Musik hören, sie schön finden, aber es gab für mich quasi keinen Eingang. Später waren diese beiden Konzerte für mich so eine Art Schlüsselmomente, die mir eine Veränderung zu einem eher späten Heimisch-Werden in der Welt zeigen.

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