Wer sind wir – heute?

Weltausstellungen waren die große neue Idee im 19. Jahrhundert. Zum ersten Mal 1851 in London ausgerichtet, zeigten sich die Nationen der Welt (naja, die eigeladenen) von ihren besten Seiten. Leistung war das Stichwort, Zukunft die Blickrichtung. Wer sind wir – wo kommen wir her – wohin sind wir unterwegs? Diese Fragen wollten beantwortet werden. Und erst rückblickend wird klar, wie falsch man immer wieder lag.

Im Herforder Museum Marta (und im Kunstmuseum Ahlen) gibt es noch bis zum 10.02.2019 die Schau „Brisante Träume – Die Kunst der Weltausstellung“ zu sehen, und ja: das lohnt sich. Die Ausstellung ist – zumindest für jemanden, der Berliner Verhältnisse gewohnt ist – eher klein. Aber so vergnüglich, und auch so klug und facettenreich eingerichtet, dass man einen schönen Nachmittagsrundgang dort (ich war nur in Herford) drehen kann.

Schon aus Platzgründen findet keine Materialschlacht statt. Aus den mal mehr, mal weniger regelmäßig stattfindenden Weltausstellungen hat sich das Kuratorenteam auf sechseinhalb Weltausstellungen (da die in Dubai erst noch 2020 stattfinden wird, zähle ich sie hier nur halb…) beschränkt, sie jedoch mit zeitgenössischen Werken quasi aufgefüllt, um den damaligen Zeitgeist, aber auch die Strömungen, die von damals bis heute weiterwirkten, zu zeigen.

Für mich ergeben sich zum ersten eine Menge Aha-Erlebnisse: Kunstwerke, die ich kenne, stehen hier plötzlich in einem eng zeitlichen Kontext, so gleich am Anfang Robert Delaunay riesiges – 10 auf 15 Meter – Gemälde „Air, Fer, Eau“, das 1937 in Paris gezeigt wurde – und, ja eben, ganz kurz vor dem Krieg, so aussieht wie ein Popgemälde ungefähr 30 Jahre später. Oder Dalis Kunst-Geisterbahn „Dream of Venus“, ein Pavillon der Ausstellung, die 1940 in New York stattfand und mitten im Weltkrieg Fortschritt und Menschlichkeit zelebrierte. Die Kunstwerke, im Studium und auch in den meisten Kunstbüchern nach wie vor – und wie auch anders – aus dem historischen Kontext isoliert, kehren hier in ihre Zeit zurück und rücken in die Nähe national/istischer Propaganda und kolonialem (wenn auch oft gut gemeintem) Selbstverständnis.

Fortschritt, Industrie und Spektakel, Zukunftsträume, der Versuch, Wissen und Kenntnisse zusammenzuführen, publikumswirksam darzustellen, die wissenschaftliche und künstlerische Welt jeweils neu auszubalancieren, neue Technologien, die Entdeckung fremder Welten, weltfremder Gegenden und die Hoffnung auf Krieg oder Frieden: überall suchten Künstler/innen auf eigenständige Antworten und auf eine Weltsicht jenseits von Fakten und Machbarkeiten.

Besonders gut gelungen erweist sich die Durchmischung der Räume, die je einer Weltausstellung gewidmet sind, mit zeitgenössischer Kunst. Auf diese Weise schleicht sich nirgends diese retrospektive Überheblichkeit ein, hier sei doch alles so possierlich naiv und unausgereift, denn die aktuellen Werke beweisen, dass viele damaligen Neuheiten bis heute greifen oder immer noch zu unbeforschten oder zumindest nicht bis zu Ende durchforschtem Gebiet gehören, und dass die Träume oder Hoffnungen (auch Alpträume) noch nicht ausgeträumt oder aufgegeben sind.

Persönlich völlig von den Socken war ich übrigens von dem „Elektronischen Gedicht“, das aus einer Zusammenarbeit des Architekten Le Corbusier mit den beiden Komponisten Eduard Varèse und Iannis Xenakis entstand. Le Corbusier baute einen Pavillon für die Weltausstellung 1958 in Brüssel, in dem eine Kunstinszenierung aus Licht, Klang und Bildprojektionen gezeigt wurde. Eine irres Klangstück (von der Inszenierung war, wenn ich das richtig verstanden habe, lediglich eine Art Diaschau zu sehen), das vor Arbeiten des deutschen Computerkünstlers Tim Berresheim taufrisch wirkt. Ich wäre am liebsten Stunden dort sitzen geblieben…

Der Katalog ist übrigens ebenso erfreulich wie die Ausstellung und mit 14,00€ auch bezahlbar. Was soll ich sagen: Ein Ausflug nach Herford lohnt sich.

Das Foto zeigt einen Blick auf eine wandgroße Arbeit von Tim Berresheim im Raum für die Brüsseler Weltausstellung 1958.

Filed under: Ausstellungsbesprechung

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Wer die Welt erkennen will, sollte genau hinsehen. Schon als Kind habe ich mir häufig die Augen gerieben und - wenn es sein musste - noch einmal hingeschaut. Mittlerweile arbeite ich als Journalistin und als Autorin. Auch hier ist das genaue Hinsehen, keineswegs das Schreiben, die, wenn man so will, Kerntätigkeit. Doch während ich meinen Blick bei der Arbeit fokussiere und das Gesehene zu allen möglichen Richtungen hin ausleuchte, möchte ich in meinem Blog kurze Blicke wagen. Wer zurückschaut, ist herzlich willkommen.

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