Selbstbetrachtung: Eine Nebelwanderung

Dass es gar nicht so einfach ist, sich selbst auf die Schliche zu kommen, spüre ich am eigenen Leib, seit ich mit meiner Burnout-Diagnose da stehe. Als wäre er für mich geschrieben, steht heute ein Text von dem Psychologen Steve Ayan auf „zeit-online“:

„Selbsterkenntnis – 10 Dinge, die Sie über sich wissen sollten“

Mit Erleichterung lese ich, dass es viel schwieriger ist, eine ungefilterte (oder zumindest angehend ungefilterte) Selbsterkenntnis zu erreichen, als wir gemeinhin denken. Denn tatsächlich ergaben für mich die letzten zwei Wochen, dass ich mir über viele meiner Handlungen, über Motivationen, Selbstverständnisse oder Vorurteile überhaupt nicht im Klaren bin. Ich laufe wie auf Autopilot gestellt durch meinen Alltag und verpasse viele Gelegenheiten, mal stehen zu bleiben, wenn ich zu schnell laufe oder gar in die falsche Richtung.

Kein Wunder, sagt Ayan, denn unsere Innenschau ist verzerrt, weil wir eher sehen, was wir sehen wollen, als das, was tatsächlich ist. Kurz, das Unbewußte spielt offensichtlich eine viel größere Rolle beim selbstgezimmerten Selbstverständnis, als wir ahnen.

Ein Fehler – und das ist mir tatsächlich auch schon gedämmert – besteht darin, sich zu sehr mit den eigenen Gedanken zu identifizieren. Denn, jajaja, die Gedanken kommen und gehen. Wir sind viel wandelbarer, als wir denken, und viel weniger auf einen festen Wesenskern reduziert, als uns vielleicht manchmal lieb ist. Selbstbilder und vor allem Ansprüche entstehen hier, und verzerren viel. Zum Beispiel müsste ich im Beruf viel klarer sehen, was möglich und angemessen ist, nicht aber, was perfekt wäre und meinem Selbstbild als zuverlässige und fehlerfreie (hahaha) Arbeitskraft bestätigt.

Dabei sehe ich, dass ich schon sehr früh, so zu Beginn meines Studiums, mit 19/20 Jahren erkannt hatte, dass ich keinen festen Wesenskern besitze. Ich vermutete dahinter ein Defizit, wegen meiner zum Teil sehr schwierigen Kindheit. Wenn man der aktuellen Forschung glauben kann – und ich neige dazu – ist jedoch gerade diese Idee vom „wahren Ich“ ein Gespenst, oder zumindest in großen Teilen Wunschdenken. Eventuell sogar, wie Ayan andeutet, eine ähnliche Hilfskonstruktion wie die Idee von Gott. Insofern auch gar keine schlechte, aber eben eine Konstruktion, die zu überdenken und zu betrachten sich lohnt.

 

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Wer die Welt erkennen will, sollte genau hinsehen. Schon als Kind habe ich mir häufig die Augen gerieben und - wenn es sein musste - noch einmal hingeschaut. Mittlerweile arbeite ich als Journalistin und als Autorin. Auch hier ist das genaue Hinsehen, keineswegs das Schreiben, die, wenn man so will, Kerntätigkeit. Doch während ich meinen Blick bei der Arbeit fokussiere und das Gesehene zu allen möglichen Richtungen hin ausleuchte, möchte ich in meinem Blog kurze Blicke wagen. Wer zurückschaut, ist herzlich willkommen.

Comments 6

    • Stephanie Jaeckel 22. Juli 2018

      Ich würde das bei mir nicht als Arbeitssucht beschreiben – von der Stundenzahl her bin ich meistens gar nicht so viel am Schreibtisch – sondern als eine Art Übermotivation. Insofern habe ich auch nicht das Gefühl, ich müsse weniger arbeiten, eher vielleicht entspannter.

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  1. papiertänzerin 23. Juli 2018

    Seitdem ich regelmäßig meditiere (ja, ja 😉 ) erkenne ich mich selbst viel klarer & kann mehr über mich & meine gedanklichen Abenteuer lachen (schöner Nebeneffekt, finde ich). Mir hilft es, den Autopiloten auszuschalten & mit mir in Kontakt zu sein (nicht etwa entspannt oder gedankenfrei, sondern genauso wie es eben gerade ist).

    Gefällt 2 Personen

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