Viel ist schon über den scharfen Blick und die noch schärferen Analysen von Joan Didion geschrieben worden. Wo sie hinschaut, mögen andere Leute auch beim zweiten Blick nichts – oder zumindest kaum etwas – bemerken. Joan Didion jedoch brennt ein Loch in die Realität, sie sieht klar, was los ist und schreibt es ebenso klar für uns auf.
Der Reiz an dem bereits Anfang des Jahres bei Ullstein veröffentlichten Buch „Süden und Westen – Notizen“ ist aber ein anderer: In den 1970er Jahren als Vorlagen für eine Reportage geschrieben, blieben die Texte in der Schublade liegen und kamen erst jetzt, d.h. mit einer gut 40jährigen Verspätung an die Öffentlichkeit. Was bei anderen Autor/innen vielleicht eine Erinnerung an alte Zeiten geworden wäre, ist bei Didion eine fast schon unheimliche Voraussicht der US-amerikanischen Gegenwart.
Der erste und weitaus größere Teil spielt im Süden Amerikas, an der Golfküste, wo Sommer ist und die Hitze unerträglich.
„Es gab keine journalistische Notwendigkeit, an irgendeinen der Orte zu fahren, an denen ich damals war; nirgendwo >passierte< etwas, keine berühmten Morde, Gerichtsverfahren, Integrationsverfügungen, Auseinandersetzungen, nicht einmal gefeierte Taten Gottes.
Ich hatte nur das dunkle und unausgereifte Gefühl (…), dass der Süden und besonders die Golfküste für Amerika einige Jahre lang das gewesen war, was, wie die Leute immer noch sagten, Kalifornien war (…): die Zukunft, die geheime Quelle negativer und positiver Energie, das psychische Zentrum. (…)
Didion, die mit ihrem Mann unterwegs ist, macht wenig. Wo es ihr möglich ist, trifft sie Politiker oder andere Honoratioren der jeweiligen Stadt, ansonsten bewegt sie sich scheinbar ziellos umher. Sie muss sich fragen lassen, wer ihr erlaube, Artikel über Hippies und anderen „Abschaum“ zu schreiben, sie bekommt schiefe Blicke, weil sie ihr Haar offen trägt und nicht frisiert, wie es sich im Süden für verheiratete Frauen gehört. Sie fällt bei Regen in ein Matschloch, hat Angst vor Schlagen, trinkt miserablen Kaffee und isst noch miserableres Abendessen zu Zeiten, in denen in New York oder Los Angeles gerade mal der Aperitif serviert wird. Sie ist fasziniert von dem krassen Schwarz-Weiß, das die Sonne in diesen Landstrich brennt. Und sie merkt sofort, dass Natur hier als Feind wahrgenommen wird, nicht als „erlösende“ Wellness-Oase gestresster Städter:
In New Orleans nimmt man die Wildnis als etwas sehr Nahes wahr, nicht als die erlösende Wildnis der westlichen Vorstellungen sondern als etwas Wucherndes, Altes, Bösartiges, (…) als tödliche Bedrohung einer Gemeinschaft, die im tiefsten Kern labil und kolonialistisch ist. Der Effekt davon ist Lebendigkeit, Gier und eine intensive Beschäftigung mit sich selbst; eine für Kolonialstädte nicht ungewöhnliche Eigenschaft und der Hauptgrund, warum ich solche Städte belebend finde.“
Und der entscheidende Grund, warum dieses Buch bei allem Entsetzen nicht moralisch daherkommt. Im Gegenteil, mir hat es große Lust gemacht, selbst einmal die Südstaaten zu besuchen. Als parallele Lektüre empfehle ich den Roman von Paula Fox, „Der Gott der Alpträume“, 1990 erstmals erschienen, der ebenfalls im unheimlichen Schwarz-Weiß New Orleans spielt und ebenso klarsichtig das Leben dort beschreibt.
Joan Didion, Süden und Westen. Notizen, Ullstein Verlag Berlin 2018, übersetzt von Antje Rávic Strubel
Ich danke dem Ullstein-Verlag für das Rezensions-Exemplar!