Kunst?

In letzter Zeit komme ich an meinem kleinen Kreuzberger Schreibtisch (der im Unterschied zu dem großen Schreibtisch zu Hause steht) immer wieder an Grenzen. Nicht, dass es im Büro alles easy ist, aber zu Hause denke ich oft noch abends oder früh morgens über Fragen nach, die ich von der Arbeit mitgebracht habe. Als Kunsthistorikerin komme ich zum Beispiel immer wieder zu der Frage danach, was Kunst ist. Wie vieles, ist auch diese Zuordnung willkürlich und gar nicht so alt oder selbstverständlich, wie wir meinen, wenn wir uns in die Vergangenheit umdrehen und bis in die Vor- und Frühgeschichte Kunstwerke sehen.

Natürlich ist die Zuordnung dieser Dinge zur „Gattung“ Kunst willkürlich und fand oft erst wesentlich später statt als zur Zeit der Entstehung der jeweiligen Objekte. Für uns ist eine antike Graburne Kunst. Schon das Alter macht sie zu einem seltenen, geheimnisvollen Objekt, das von Spezialisten gefertigt wurde und oft so teuer war, dass nicht jede oder jeder sich eine leisten konnte. Da kommt einiges zusammen. Dennoch hätten die Altvorderen vielleicht Schwierigkeiten mit der Idee, ihre Graburnen im Museum zu sehen. Selbst Werke von damals durchaus bewunderten Renaissance-Malern entstanden unter anderen Bedingungen als heute. Da Vinci hätte der Hype um sein Bild vielleicht gefallen. Vielleicht hätte er sich aber doch an den Kopf gefasst.

Ich schreibe gerade über Zeichnungen und Grafiken von Inuit-Künstlerinnen aus Cape Dorset in Kanada. In der Zeit um 1940 geboren, gehören sie zu den ersten Frauen aus jener Gegend, die überhaupt kreativ tätig wurden. Bei den Inuit waren bis dahin nur Skulpturen aus einer Art Speckstein als Kunstobjekte im Umlauf, daneben „kunstgewerbliche“ Arbeiten, wie die Verzierungen von Alltagsgegenständen oder Arbeitsgeräten. Alles Männerwerk. Erst als die moderne weiße Welt im ewigen Eis Fuß fasste, bekamen Frauen die Möglichkeit, zu zeichnen oder Druckgrafiken herzustellen. Pitaloosie Saila gehört zu diesen ersten Frauen. Sie hatte als Kind einige Jahre in Krankenhäusern Quebecs verbracht, und nur deshalb Englisch und ein wenig Französisch gelernt. Zur gleichen Zeit kam ein kanadischer weißer Künstler in ihre Heimat und gründete dort ein offenes Atelier für Druckgrafik. Frauen kamen dorthin und es zeigte sich – sehr verkürzt erzählt – dass viele von ihnen Talent zum Zeichnen hatten, und mehr noch: eine ganze eigene Themenwelt aus Mythologie und eiskaltem Extremalltag. Kurz: Pitaloosie Saila und einige ihrer Altersgenossinnen wurden Künstlerinnen. Erste in ihrer Generation und erste mit dieser speziellen Art Themen und Technik so miteinander zu verbinden.

Auf dem Kunstmarkt gelten solche Arbeiten nach wie vor als „naiv“ oder zumindest als „indigen“, sie erzielen durchaus gute Preise, aber ein Nachgeschmack bleibt, denn wir Weißen sind es, die diese Zeichnungen in den Rang von Kunstwerken erheben. Und Kunstwerke sind das, was wir europäischen Weißen uns mal – und immer noch – darunter vorstellen. Aus der Redaktion hieß es dann auch, dass wir nicht zu viele von „denen“ aufnehmen wollen, das verzerre das Bild. Oder dass hier stilistische Entwicklung und Unterscheidung zu beschreiben sei, ein mühsames Geschäft, weil tatsächlich viele der Frauen auch Souvenirs hergestellt haben, die keinesfalls in stilistischen Kategorien zu beschreiben sind. Patt.

Muss es denn Kunst sein? Und wenn ja, gelten immer nur die Regeln, die wir in Europa an Kunstwerke zu stellen gewohnt sind? Andererseits, wenn es etwas anderes als Kunst ist, was ist es dann? Komme mir jetzt keine/r mit kreativ! Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich auch schlicht die aktuelle Diskussion verschlafen (sehr gut möglich). Aber dem Kunstbegriff, mit dem wir gemeinhin hantieren, haftet etwas längst Überholtes an. Das sollte sich doch ändern – oder?

Das Foto zeigt einen Ausschnitt von Pitaloosie Sailas Lithographie „Loon with Young“ von 1998.

 

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Wer die Welt erkennen will, sollte genau hinsehen. Schon als Kind habe ich mir häufig die Augen gerieben und - wenn es sein musste - noch einmal hingeschaut. Mittlerweile arbeite ich als Journalistin und als Autorin. Auch hier ist das genaue Hinsehen, keineswegs das Schreiben, die, wenn man so will, Kerntätigkeit. Doch während ich meinen Blick bei der Arbeit fokussiere und das Gesehene zu allen möglichen Richtungen hin ausleuchte, möchte ich in meinem Blog kurze Blicke wagen. Wer zurückschaut, ist herzlich willkommen.

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