Wer an langen Bilderreihen entlang flanieren will, ist dieses Mal im 2. OG. des Berliner Martin-Gropius-Baus an der falschen Adresse: Die Lucian Freud-Ausstellung, die nur noch bis zum Wochenende dort Station macht, ist klein, aber gewaltig.
Der 1922 in Berlin geborene Maler Lucian Freud war mit seiner Familie während der Nazi-Diktatur nach England emigriert und wurde dort (ich verkürze) zum Porträtmaler. Eine zu seiner Zeit mehr als ausdrückliche Entscheidung, denn zu Beginn seiner Karriere war die abstrakte Malerei in Europa auf dem Zenit ihrer Akzeptanz.
Die Ausstellung zeigt 51 Radierungen. Manchmal entstanden sie in Vorbereitung zu einem Gemälde – Freud porträtierte oft Menschen aus seiner direkten Umgebung: Seine Mutter, Freundinnen und Freunde, Kollegen. Für ihn waren diese Porträts nicht bloß Erinnerungsbilder. Von Kunst erwartete er Verstörung.
In einem einführenden Text im ersten Raum werden seine Grafiken als „unsentimental, aber pathetisch“ beschrieben. Ein Paradox, das bei Freud aufgeht. Denn nichts an den Gesichtern, in die wir im ersten Raum schauen, ist gefühlig, nicht einmal einfühlsam. Freud zeichnet, was er sieht. Und das ist nicht immer schön. Viele Gesichter sind verbraucht. Die Menschen sehen müde aus, manchmal sogar unwillig. Gleichzeitig geht Freud viel zu nah an sie ran, er überschreitet fast immer die Grenzen eines respektvollen Abstands. Es ist, als hätte er seine Gegenüber mit der Lupe betrachtet.
Gesichtslandschaften tun sich auf. Hügellandschaften, die aus der Perspektive wirken. Denn je näher sich Freud ranzoomt, desto verzerrter werden die Physiognomien. Wir sehen Augen, Nasen, Münder, Stirne, Haare (keine Frisuren), nackte Gesichter, die er scheinbar mit Netzen seiner Schraffuren überzieht, modelliert. Alle werden auf diese Weise verletzlich und lebendig zugleich. Dabei entwickelt die Perspektive eine ungeheuerliche Dynamik und damit das, was Freud interessierte: Verstörung.
Warum sich keines der Bilder in Richtung Karikatur verirrt? Freud zeichnet mit einer ungeheuerlich zarten Präzision. Er sieht alles, aber er akzeptiert auch alles. Er will nicht urteilen. Er staunt. Auch über die Verlorenheit, die Hässlichkeit und die Vulgarität all‘ dieser Menschen. Als Betrachterin ist mir dabei oft unbehaglich. Zuerst, weil ich mich zu nah herangerückt fühle an die Fremden. Weil ich mich ertappt fühle in meiner eigenen Verlorenheit, Hässlichkeit. Weil ich Mitleid empfinde, das sich, je länger ich schaue, in eine große Freude wandelt. Die Conditio Humana. Nichts weniger. Eine verstörende, und gleichzeitig beglückende Schau.