Meine Eltern waren als Kinder, bzw. Teenager im Zweiten Weltkrieg auf der Flucht. Meine Mutter kehrte beim Vorankommen der russischen Soldaten im Osten des Landes mit dem großen Flüchtlingsstrom zurück ins Rheinland. Mein Vater desertierte als Flugschüler des Regimes mit seinem unglaublich mutigen und klugen Lehrer aus Leipzig über Ungarn und Österreich ebenfalls zurück nach Köln.
Seit ich denken kann, träume ich von Zügen (meist), Bussen oder Flugzeugen, die ich verpasse. Ich renne und renne durch unbekannte Gegenden, meist Städte oder Unorte am Stadtrand, es kommen mir dauernd komischste Dinge dazwischen und dann gibt es diesen Moment, und ich bin jedes Mal zu Tode erschrocken, in dem ich meine Reisegelegenheit verpasst habe. Der andere Traum findet quasi einige Stunden vorher statt: Ich packe Unmengen von Zeug in viel zu kleine Koffer. Je mehr ich mich beeile, desto mehr Zeug quillt hervor und lässt sich nirgends mehr unterbringen. Es ist Stress pur.
Mir waren die Träume lange rätselhaft. Weil ich in meinem Leben kaum je Busse, Bahnen oder Flugzeuge verpasse, und meine Reisegarderobe stets so übersichtlich ist, dass sie garantiert in den Koffer passt. – ? Warum diese hartnäckigen Träume?
Dass Eltern, die eine Flucht im Krieg erlebt haben, es zum Beispiel bedrohlich finden, wenn ihr Kind ganz gedankenversunken spielt. Oder gar schläft. – Das hatte ich natürlich nicht auf dem Schirm. Gerade meine Mutter trieb mich, sobald sie es bemerkte, aus allen stillen oder konzentrierten Momenten. Mit 13 hatte ich eine handfeste Schlafstörung und war bis 25 tablettenabhängig. Ich hatte alle Konzentrationsstörungen, die man sich nur denken kann. Ich war in meinem eigenen Leben immer auf der Suche, nach einem ruhigen Platz, an dem ich arbeiten, schlafen, ja einfach nur sein durfte. Ich war – und bin es heute noch häufig – auf der Flucht.
Eine entsetzliche Kindheit. Für meine Eltern und für mich. Schuld? Wohl kaum. Aber großes Leid.
wildgans 1. Juli 2022
dieses einfach nur sein dürfen…
nun bin ich doch sehr nachdenklich…
wie überstanden sie das alles – meine großmutter zum beispiel: flucht mit vier kleinen kindern…so viele heftige Schicksale…
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Stephanie Jaeckel 1. Juli 2022
Ja. Und wir haben es eben auch noch in den Knochen. Nicht als Vorwurf. Nur eben als Hinweis, warum so viele von uns so rastlos sind. Und gar nicht so bei sich ankommen…
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Lena Riess 1. Juli 2022
Mir geht eben ein Licht auf.
Ich mit Bus/Strassenbahn/Zug irgendwo. Ich sollte den Ort kennen, bin aber orientierungslos, finde keinen Anschluß, ein sehr ungutes, verlorenes Gefühl.
Dieser Traum kommt immer wieder. Die flüchtende Grossmutter (erst Ostpreussen, dann Frankfurt-Oder), meine Mutter und meinen Onkel dabei … das könnte eine Erklärung sein.
Danke und die besten Wünsche.
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Stephanie Jaeckel 1. Juli 2022
Ja. Das ist etwas, was ich gerade schon Marion geantwortet habe. Wir haben alle noch diese Kriegstraumata unter der Haut. Mir scheint es so extrem wichtig, dass wir aufmerksam sind, und diese Zeichen auch gemeinsam lesen und akzeptieren. Weil wir uns sonst zu sehr gegeneinander positionieren. Wie viele Menschen leiden darunter, gestört zu werden. Dabei – na, eben, ist das so ein gemeinsames Problem.
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Verwandlerin 1. Juli 2022
Vielen Dank für diesen Enblick in deine Familiengeschichte und dein Innenleben.
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Stephanie Jaeckel 1. Juli 2022
Ja, ich denke, dass meine Familiengeschichte die von vielen aus meiner Generation ist. Das war mir wichtig. Wir müssen uns halt gegenseitig darum kümmern, Dinge auch aufzuarbeiten.
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Verwandlerin 3. Juli 2022
Ja, das sehe ich auch so!
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monsieurquirit 1. Juli 2022
Nicht Schuld wird witergegeben, aber Traumata vererbt, nachweislich und nicht nur an die nächste Generation. Bei allem Leid kennst du die Erlebnisse deiner Eltern, viele andere bleiben völlig im Dunkeln, ratlos, blind.
Es ist gut, deinen Text zu lesenm an spürt Boden unter den Füßen.
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Stephanie Jaeckel 1. Juli 2022
Ja, ich habe insofern Glück gehabt, dass die schwere Krankheit meiner Mutter mich noch einmal zu meinen Eltern zurück geführt hat. Ich war eigentlich raus, aber diese Rückkehr hat mich dann doch einiges verstehen lassen. Dass ich auf dieses Flucht-Trauma gekommen bin, war eher Zufall. Aber mit einem Schlag verstehe ich eine ganze Menge. Verstehen ist natürlich nicht heilen. Aber auf eine Art Orientierung. Oder das was du als Boden unter den Füßen beschreibst.
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