Natürlich heule ich. Dachte ich. Ich meine, natürlich heule ich. Aber das ist noch nicht Trauern. Als ich die paar Tage in London war, wurde mir plötzlich klar, wie gepanzert ich durch die Welt gehe. Wenn es schwierig wird, schalte ich sofort auf optimistischen Angriff um. Komplett. Mein ganzer Organismus ist dann im Kampfmodus. Wenn es sein muss, über Wochen und Monaten.
Mehr aus Neugier habe ich neulich in der Bibliothek zu Oskar Seyferts Buch gegriffen. Seyfert ist gerade 15 und hat über die Alzheimer-Erkrankung seines Vaters geschrieben. Auch nachdem meine Mutter jetzt schon seit sechs Jahren tot ist, interessiert mich das Thema noch. Das Wort „Privileg“ im Buchtitel hatte mich zudem angesprochen. Denn bei allem Elend, was die Erkrankung meiner Mutter mit sich brachte, habe ich ihre Demenz auch immer als eine existentielle Herausforderung begriffen, die mich zu Erkenntnissen zwang.
Beim Lesen wurde mir klar, wie sehr ich die Situation damals „im Griff“ behalten wollte. Meine Mutter litt, mein Vater rastete regelmäßig aus. Eine musste ja den Verstand behalten. Ich mache mir das auch nicht zum Vorwurf. Aber ich drängte meine Gefühle immer zur Seite, um handlungsfähig zu bleiben. Selbst als meine Mutter starb, blieb ich weitgehend vernünftig. Ich war traurig, ich war auch froh, über die schöne Beerdigung. Aber mehr so an der Oberfläche.
Was mir bei diesem Buch ebenfalls auffällt: ich vertraue mich jetzt öfters jungen Menschen an. Für mich ist 2007 das Jahr dieses Wechsels: Damals hatte ich zum ersten Mal wesentlich jüngere Projektleiter in einem Job. Ich war mit einem Schlag die ältere Häsin. Das belustigte mich zunächst, wurde aber in den folgenden Jahren zur neuen Realität. Mittlerweile gucke ich mir so einiges bei Jüngeren ab. Und bin froh, dass ich mir das erlaube. Deshalb auch ein dickes Danke an Oskar Seyfert. Er zeigt mir in seinem Buch, wie weit ich mich von meiner Traurigkeit entfernt hatte.