Mutti, Vati, Pünktchen (wahlweise Prinzessin) – es ist eine kleine, behütete Welt in die für die Familie Goldschlag die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten mit voller Wucht einschlägt. Der Vater, Journalist und Komponist, glaubt sich nicht in Gefahr. Man hört abends „Lieder“ (vornehmlich die von Schubert), lebt als „Deutsche jüdischer Herkunft“ ein gutes Leben. Mutti und Pünktchen sind blond, was ihnen mehr als einmal in den folgenden Jahren das Leben rettet. Sie verachten Juden um sich herum, ihre Kultur ist die des Berliner Westens jener Zeit.
Der Sturz für Pünktchen, die mit Vornahmen Stella hieß, und zu einer bildschönen Frau heranwuchs, war enorm. Sie, das deutsche Mädchen, war Jüdin. Wahrscheinlich lag schon hier der Grund ihrer Verwandlung in eine eiskalte Menschenjägerin, die in den 1940er Jahren Jüdinnen und Juden an die Gestapo verriet und dafür ihr eigenes Leben retten konnte.
Nein, es ist keineswegs nur ein historisches Stück, das wir mit „Blond Poison“ noch bis zum 3. Oktober in der Berliner Brotfabrik zu sehen bekommen. Es trifft einen empfindlichen Nerv unserer Zeit, unseren Umgang mit Migranten, mit Ethnien, mit Identitäten, mit nationalen Vorstellungen. Oder eben gerade unseren Nicht-Umgang damit, weil die Fragen komplex sind, und wir uns wie Vati Gerhard Goldschlag vielleicht – oder zumindest gelegentlich – zu sicher auf der richtigen Seite fühlen.
Hätte es für Stella Auswege gegeben, wo sie längst keine mehr sah? War es eine Charakterfrage, weshalb sie „böse“ wurde? Und war das wiederum der Grund, weshalb sie sich (erst) im Alter das Leben nahm? Wie lange dauert es, bis Verfolgung und Todesangst einen Menschen korrumpieren? Gehen die Gefühle, geht die Liebe verloren in dieser Zeit? Wie kann man mit einer solchen Erfahrung weiterleben? Und wozu?
Das intensive Ein-Personen-Stück der britisch-südafrikanischen Autorin Gail Louw basiert auf der wahren Geschichte der Stella Goldschlag. Unter der Regie des Briten Robert Chevara kommt es – in englischer Sprache – zum ersten Mal (wenn ich das richtig verstanden habe) in Deutschland auf die Bühne. Die neuseeländische Schauspielerin Dulcie Smart spielt Stella in einem flackernden Vor und Zurück zwischen den Zeiten, zwischen Erinnerung und Verdrängung, Wahrheit und Selbstbetrug. Für mich die verwirrendste Erfahrung von gestern Abend, als ich das Stück gesehen habe: Ich konnte Dulcie, die ich persönlich kenne, zeitweise nicht wiedererkennen. Nicht, dass sie auf der Bühne besonders geschminkt gewesen wäre (wenn natürlich auch etwas mehr als im privaten Leben). Ich schaute sie an, und dachte: „ich kenne sie, ich kenne sie! Aber ich erkenne sie nicht wieder.“ Zum Glück ist mir das nur als Zuschauerin vor der Bühne passiert. Wie erschreckend muss ein solcher Moment im „wirklichen“ Leben sein!
bis zum 3. Oktober, Tickets unter http://www.brotfabrik-berlin.de
muetzenfalterin 27. September 2018
Sehr gute Besprechung. Ich bin als Leserin ganz nah dran. An Deinem Erlebnis des Nicht Wiedererkennens. Und vor allem möchte ich danke sagen für diesen Satz: „Oder eben gerade unseren Nicht-Umgang damit, weil die Fragen komplex sind, und wir uns wie Vati Gerhard Goldschlag vielleicht – oder zumindest gelegentlich – zu sicher auf der richtigen Seite fühlen.“ Dieses reflexhafte Slogans anhaften: sei es Je suis Charly oder aktuell wir sind mehr, fühlt sich für mich nicht gut an, gerade weil es davon zu zeugen scheint, dass sich viele Menschen ein wenig zu sicher auf der „richtigen“ Seite fühlen.
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Stephanie Jaeckel 27. September 2018
Gegen diesen Reflex, sich auf der richtigen Seite zu fühlen, hilft möglicherweise (ich probiere das gerade selbst aus), sich auszusetzen, d.h. sich zu zeigen. Für etwas einzustehen, es laut zu sagen, oder etwas zu tun, was einen aus der eigenen Bequemlichkeit herausholt. Ungemütlich. Eventuell mit Konsequenzen behaftet. Mal sehen… – Und: Danke für Deinen Kommentar.
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