Bilder von früher

Wer keinen Krieg miterlebt hat, sollte nicht so sicher sein. Oder: Wer Ulrike Draesner liest, wird immer wieder mit dem Phänomen der Kriegskinder und Kriegsenkel konfrontiert. Sie ist eine Enkelin, so wie ich. Sie konzentriert sich in ihren Büchern – selbst in ihrer aktuellen Poetikvorlesung „Grammatik der Gespenster“ – darauf, ich schaue immer wieder weg. Was sich in meinen Träumen rächt. Je besser es mir tagsüber geht, desto schlimmer sind die nächtlichen Träume. Oder wie konnte es sein, dass ich als Vierjährige von brennenden Städten träumte? Wir hatten keinen Fernseher. Wo kamen die Bilder her? Und wenn ich daran denke, dass mein Vater die Zerstörung Dresdens, die er als Funker durchgeben musste (und bei seiner Rückkehr die Zerstörung Kölns), als seine – zumindest offiziell – schlimmsten Kriegserlebnisse bezeichnete (später) – wieso war das in meinem Kopf präsent?

„Nebelkinder“ nennt Ulrike Draesner unsere Generation, nicht Babyboomer, was ihr viel zu harmlos erscheint, und zu wenig präzise, schließlich gebe es diese Kinderfülle – zumindest bis zur Einführung der Pille – nach jedem großen Krieg. Wir, die Kinder der Generation der zwischen 1927 und 1942 geborenen, wurden „in einer Nebellandschaft“ erzogen, wie Draesner schreibt, „ohne Informationen über die Familiengeschichte“, sie zitiert Begriffe wie Postmemory, kollektive Schuldgedanken, erinnert an die Verwischungen aller Erinnerungen: wer glaube denn, „nostalgisch und naiv, jeder wäre bei sich selbst einfach zu Hause?“ Ich erinnere mich an eins ganz genau: die Leere der Welt, die ich als Kind spürte, und die Kälte der Menschen, zwischen denen ich aufwuchs. Die Forschung hat längst aufgearbeitet, dass die Liebesfähigkeit auch meiner Eltern, der Kriegskinder, gelitten hatte unter dem Druck der fürchterlichen Erlebnisse und dass ich, das Kind (und die Enkelin des Krieges), ihre Trauer, ihre Schmerzen übernahm, um sie zu entlasten. Die Folge: diffuse Ängste, Leerstellen, ständige Gefühle der Nichtidentität, unheimliche Träume. „Es dauerte“, schreibt Draesner, „bis man begreifen oder wahrhaben wollte, wie unvergangen Vergangenheit sein konnte.“

Die Träume sind Zeugen. Nicht dass ich darin fast nur Fremden begegne, denn ich bin meist auf der Flucht. Übrigens auch letzte Nacht, in der ich verborgenen Zwischenräumen eines Hauses lebte, ungesehen von den Bewohnern, ausgestoßen und unsichtbar. Vielleicht lässt sich von hier auch auch erklären, warum es feste Traumlandschaften gibt, solche, die über Jahre und Jahrzehnte wieder auftauchen ohne jegliches Äquivalent in der Realität zu haben. Es könnten Kriegsgebiete sein, die mir meine Eltern vererbt haben, und die in meinen Gedanken und „Erinnerungen“ eine Topographie gefunden haben außerhalb von Raum und Zeit. In den Träumen bin ich fast immer auf der Flucht. Dass ich das erst heute begreife.

P.S. Ich möchte dieses Dasein als Kriegsenkelin nicht vergleichen mit dem jener Menschen, die – auch zur Zeit – Kriege am eigenen Körper miterleben. – Es geht mir – wie Ulrike Draesner – um das Verstehen der meiner Generation eingewachsenen Panik und im weiteren Sinn um unsere verstörende Haltung Kriegsflüchtlingen gegenüber.

 

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Wer die Welt erkennen will, sollte genau hinsehen. Schon als Kind habe ich mir häufig die Augen gerieben und - wenn es sein musste - noch einmal hingeschaut. Mittlerweile arbeite ich als Journalistin und als Autorin. Auch hier ist das genaue Hinsehen, keineswegs das Schreiben, die, wenn man so will, Kerntätigkeit. Doch während ich meinen Blick bei der Arbeit fokussiere und das Gesehene zu allen möglichen Richtungen hin ausleuchte, möchte ich in meinem Blog kurze Blicke wagen. Wer zurückschaut, ist herzlich willkommen.

Comments 7

      • mannigfaltiges 3. Juli 2018

        Meine Eltern haben beide den Krieg miterlebt, mein Vater kam als Kriegskrüppel, nein, nicht mehr nach Hause, das gab es nicht mehr, sondern in ein fremdes Land. Seine Eltern wurden verschleppt. Erst jetzt beginne ich zu begreifen, warum er so war, wie er war. Beide sind schon lange tot, es wurde nichts aufgearbeitet. Aber in mir wütet es noch immer, es hat gedauert bis ich das erkannt habe.
        btw. Müller-Hohenhagen ist, zusammen mit seiner Frau, eine Koryphäe auf dem Gebiet.

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