Doch ein Genie: Martin Geck und Beethoven, II

Im dritten Kapitel unter dem Stichwort „Titanismus“ schreibt Martin Geck über Lydia Goehr, bzw. über deren Annäherung an Beethoven. Die US-amerikanische Autorin hat 1992 ein Buch mit dem schönen Titel The Imaginary Museum of Musical Works herausgegeben, in dem es um eine Revision „klassischer“ europäischer Musik aus US-amerikanischer Sicht geht.

In dem Kapitel über Beethoven geht es – so Geck – um die Frage der Opusmusik, oder anders formuliert: um den Grad der Festlegung notierter Musik im Verhältnis zur Improvisation. Goehr schreibt, so Geck, dass in der europäischen Tradition der werkgetreuen Wiedergabe von Partituren – und hier spielt Beethoven eine wichtige Rolle – die ursprüngliche Praxis der Improvisation während der Konzerte verloren ging. Beethoven hatte seine Kompositionen selbst verlegt und deshalb erstens eine strikte Zählung seiner Werke eingeführt und zweitens genaue Angaben für die Interpreten notiert.

Letzteres wurde zum Fluch und Segen in einem. Denn: die Musiker/innen fühlen sich diesen Angaben verpflichtet – bis hin zu einer stumpfen Unterwerfung. Andererseits ist die genaue Festlegung dessen, was Beethoven sich vorstellte, ein Offenbarung – oder kann es zumindest sein. Der Pianist Tomas Bächli geht soweit, von der „genialsten Notation aller Zeiten“ zu sprechen. Vor Beethoven, so Bächli, seien die Anweisungen, die die Komponisten neben den Noten noch gaben, eher karg, später (vor allem zur Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert) so üppig, dass sie sich selbst wieder aufheben. Aber damit war das Kind schon im Brunnen: denn seit Beethoven bleibt die Improvisation in Konzerten außen vor. Es entsteht – so Lydia Goehr – der Eindruck, sie sei nicht erwünscht. Und damit – und hier hakt dann wieder Martin Geck ein – sei mit Beethoven die Idee von einem „geschlossenen“ musikalischen Werk entstanden. Als Laie stelle ich mir vor, dass die Stücke Beethovens kompakter wirken, als sie tatsächlich waren. Auf der anderen Seite hatte diese Notation selbst offenbar Auswirkungen auf die nachkommenden Musiker/innen, die ihrerseits kompakter komponierten.

Soweit, so nachvollziehbar. Aber jetzt geht es in dem Kapitel weiter mit dem „Imperialismus“, den Goehr Beethoven unterstellt, und der von Geck unter dem Vorzeichen „Männlichkeit“ abhandelt wird. Seine Frage lautet: „Ist Männlichkeitswahn eine Konstante in Beethovens Schaffen?“ Und hier falle ich raus. Ich verstehe: Imperialismus bedeutet Macht, oder Überwältigung. Machtgesten wiederum sind männlich konnotiert. Martin Geck schreibt dazu: „Vor diesem Horizont ist unleugbar, dass Beethoven nicht nur in seiner Sinfonik, sondern auch in den Klaviersonaten weit mehr Machtgesten kennt als etwa Schubert“ (S. 39). Er nennt diese Machtgesten in Folge auch „titanische Momente“ (ebda). Mir ist bewusst, dass wohl auch Beethoven selbst eine Unterscheidung von männlich (sagen wir „überwältigend“, „stark“, „laut“) und weiblichen Passagen („lyrisch“, „leise“, „zart“, vielleicht auch melodiös“) gekannt, bzw. gedacht hat. Aber das funktioniert für mich nicht mehr. Ich denke eher in Kategorien, die Gilles Deleuze anbietet, und die Geck ebenfalls zitiert: statt vom „Männlichen“ spricht Deleuze vom „Plötzlichen“, oder von dem „Jetzt“ als Ereignis in der Musik und eben nicht von Musik als einer (imperialen) Erzählung.

Die Sache ist kompliziert. Und verfranst sich am Ende des Kapitels. Geck zitiert verschiedene Beethoven-Rezipienten und stellt ihre Deutungen neben- und gegeneinander. Ich lese von Felix Mendelsohn-Bartholdi, der die dem literaturästhetischen und romantischen Denken verpflichtende Terminologie eines Karl Heinz Bohrer vorwegnimmt, von Jean Paul der gegen eine idealistische Sicht von Hegel ins Feld geführt wird und der uns hilft, einzelne Motive auch jenseits einer Gesamtinterpretation zu hören. Wir sind jetzt bei der fünften Sinfonie angelangt, Geck spricht von einem „von Fermaten umschlossenen Oboensolo“, das er als „exteritoriales Wahrzeichen“ (S. 43) deutet – ich weiß nicht, wo ich bin, nehme aber an, dass Geck hier eines der einzelnen Motive vorstellt. Aber dann (oder ich verstehe das jetzt weiter falsch) wird aus diesem „einsam klagende(n) Ton der Oboe“ ein „leidendes Subjekt“ (ebd). und damit eben doch wieder ein Teil des Ganzen, der sich, wie Geck schreibt „doch immerhin an dem glänzenden Sieg beteiligt wissen (mag), den das Finale darstellt“ (ebd.).

Zum Schluss geht es noch einmal zur Eroika, Lydia Goehr ist längst vergessen, dafür kommt eine Passage aus Carson McCullers‘ Roman Das Herz ist ein einsamer Jäger ins Spiel, die verrät, dass man Beethovens 3. Sinfonie eben nicht nur als Hommage an Napoleon lesen kann, als Lob des „titanischen“ oder „heldenhaften“ im Menschen, sondern eben auch an Revolte gegen die (moderne) Vereinsamung des Individuums. Beethoven als Existentialist. Gerne, und ja, schließlich hat er nicht seine Zeit musikalisch illustriert (wie übrigens auch alle anderen Komponist/innen vor und nach ihm nicht). Das Fazit, das Martin Geck uns anbietet:

„(…) Hier geht es um eine Macht der Gefühle, die nicht genderspezifisch zu verorten ist, sondern jeden anrührt, der sich anrühren lassen will.“ (S. 44)

Ehrlich? Für mich ist das zuviel Wind um nicht viel. Mal sehen, was da noch kommt.

 

 

 

 

 

 

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Wer die Welt erkennen will, sollte genau hinsehen. Schon als Kind habe ich mir häufig die Augen gerieben und - wenn es sein musste - noch einmal hingeschaut. Mittlerweile arbeite ich als Journalistin und als Autorin. Auch hier ist das genaue Hinsehen, keineswegs das Schreiben, die, wenn man so will, Kerntätigkeit. Doch während ich meinen Blick bei der Arbeit fokussiere und das Gesehene zu allen möglichen Richtungen hin ausleuchte, möchte ich in meinem Blog kurze Blicke wagen. Wer zurückschaut, ist herzlich willkommen.

Comments 2

  1. tbaechli 4. April 2018

    Wenn ich mich als Musiker bemühe, die Zeichen einer Partitur umzusetzten, dann ist das für mich keine Unterwerfung. Ich betrachte diese Angaben als eine Art Spielregel. Natürlich kann man auch Spielregeln ändern. Die Frage ist bloss, ob das Resultat dadurch interessanter wird. Wenn ich alles, was mir auf den ersten Blick seltsam vorkommt, sofort abändere, dann wird die Komposition dadurch meistens konventioneller. Der Mensch (ich inklusive) ist zu einem guten Teil Gewohnheitstier, und will das haben, was er schon kennt. Wenn er sich mit etwas ungewohntem auseinandersetzten muss, tut ihm das meistens gut.
    Die wichtigste Freiheit eines ausübenden Musikers ist es,.sorgfältig zu wählen, was er spielen will, anstatt einfach nur die gängigen Standartstücke einmal mehr abzunudeln.

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  2. Elisabeth Lindau 4. April 2018

    Hm, das klingt nach einer wirklich anstrengenden Lektüre. Sehr befrachtet mit Zuschreibungen, die auch klischeehaft wirken können. Die Welt ist voller Antagonismen, da muss man nicht immer (nur) „männlich“ und „weiblich“ bemühen und sich auf Rollenbilder berufen (oder auch beschränken), mit denen wir heute nicht mehr zufrieden sind (uns zufrieden geben). Auch andere Gegensätze thematisiert die Musik – Streit und Versöhnung, Freiheit und Einsamkeit, „Schicksal“ und individuelle Willenskraft, Kampf und Frieden, Natur und entfremdete Zerrissenheit, Leben und Tod. Und schließlich erzählt uns die Musik das, wovon man nur schwer sprechen kann. Genau das.

    Beethoven war ja selbst ein Meister der Improvisation, und ich stelle mir vor, dass er auch Improvisationen über seine Musik akzeptiert und vielleicht auch geschätzt hätte. Es ist andererseits legitim und für uns heute selbstverständlich, dass nur das als Musik von Beethoven gelten kann, was er selbst so notiert hat, wie es für ihn richtig und damit eben „Beethoven“ war. In dieser Beziehung hat er sicher eine neue Epoche eingeleitet, die eine andere – auch rechtlich abgesicherte – Wertschätzung für ein in sich abgeschlossenes und (im doppelten Wortsinne) vollendetes künstlerisches Werk mit sich gebracht hat. Ich sehe da aber keinen Widerspruch und kein Verbot, mit dieser Musik weiterzuarbeiten. Die Frage von tbaechli, ob das Resultat dadurch interessanter wird, muss aber natürlich immer erlaubt sein – wie auch bei der Bearbeitung oder Montage oder Variation von Texten.

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