Ich besitze keine Comics. Schon als Kind las ich entweder die Texte in den Sprechblasen und war ratzfatz fertig. Oder ich sah mir die Bilder an, ohne genau zu verstehen, was vor sich ging. Das blieb so. Keine Ahnung. Ich bekomme Schrift in Textblasen nicht mit den umgebenden Zeichnungen in Kästchen koordiniert. Dennoch wollte ich unbedingt Reinhard Kleists Comic-Band „Nick Cave – Mercy on me“ haben. Vielleicht weil ich dachte, ich käme auch ohne Texte mit den Zeichnungen zurande. Bestimmt, weil mir der von Kleist gezeichnete Cave auf dem Cover so gut gefiel. Und weil – ich meine, Cave ist Bild und Ton zugleich. Wäre das was für ein Comic, fragte ich mich und/oder: wäre das ein Comic für mich?
Tatsächlich rasen Kleists Bilder so schnell los, dass selbst die Textwölkchen nicht weiterhelfen. Zum Glück erkenne ich die Titel, mit denen die fünf Kapitel überschrieben sind: Es sind Lieder aus verschiedenen Zeiten, der Hammer-Song von 1986, „Where the wild Roses grow“ von 2008, The Mercy Seat von 1988, der Higgs Bloson Blues von 2013, dazwischen der Romantitel And the Ass saw the Angel von 1989. Wir beginnen im Schnee. Und haben auch schon die Grundstimmung für die folgenden gut 310 schwarz-weißen Seiten, denn es wird eine kalte Lektüre, selbst wo es Abstecher nach Australien und Brasilien gibt – Kleist erzählt in dem Buch auch die bisherige Lebensgeschichte von Cave.
Erfährt man etwas? Erlebt man etwas? Fühlt man, wie es sein könnte, aus der eigenen Biografie Doppelgänger zu formen, die scheitern, Schlimmes erleiden, die Kurve am Ende nicht mehr kriegen. Oder den dringenden Wunsch, anders zu sein, auch wenn es weh tut? Versteht man, welche – fiktiven – Opfer gebracht werden für eine glänzende Karriere? Wie einer mit dem Schicksal Roulette spielt? Wie verwirrend es sein kann, ohne, aber vor allem mit Anerkennung ein genialer Autor und Musiker zu sein?
Kleist erzählt aus der Distanz. Er hat sich mit Cave getroffen. Sie haben miteinander gesprochen, aber die Story hat Kleist alleine entwickelt und ausgearbeitet. Gelungen ist ihm etwas, das ich mir vorher so nicht vorstellen konnte. Dass es nämlich egal ist, auf welche Seite der Medaille wir schauen. Ob Absturz oder Aufstieg, die Existenz (und sei es nun die „wirkliche“ Existenz von Nick Cave, eine „annähernde“ oder eine völlig „erdachte) ist darin wie ein fester Kern der weiter durchs All fliegt, egal, ob berühmt oder in der Gosse. Eine beunruhigende Geschichte. Denn sie kann weder gut noch schlecht ausgehen. Es ist ein Lebensweg mit den bekannten biographischen Stationen, aber völlig ohne Moral. Für Menschen, die den „richtigen“ Lebensweg suchen, ein harter Brocken. Auch für mich. Die Kategorie „gefallen“ fällt deshalb auch weg. Dennoch ist es ein gutes Buch. Und eben ein sehr kaltes.
Reinhard Kleist: Nick Cave. Mercy on me. Carlsen Verlag Hamburg 2017. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
papiertänzerin 12. Dezember 2017
Ich unterscheide beim Lesen auch zwischen kalt & warm. Aber wenn es zu sehr fröstelt, lege ich sie zur Seite.
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Stephanie Jaeckel 12. Dezember 2017
Kommt drauf an. Nick Cave ist mir in den letzten Jahren – tja, ans Herz gewachsen kann man wohl kaum sagen, fühlt sich aber entfernt so an. Er ist durchgeknallt, aber hat etwas zutiefst ehrliches, was mir gefällt. Mit ihm gehe ich also auch in den Schnee. Und: Doch, im Kalten ist sogar manchmal auch Trost.
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