Ich sitze im Zug nach Köln. Jedes Jahr um diese Zeit fahre ich nach Hause, mein Vater hat heute Geburtstag. Ich habe in den letzten Monaten wenig an meine Eltern gedacht – zu viel kam (wie sagt man?) von vorne (?) – viel Arbeit, Termine, das übliche Alltagszeugs halt. Ich erinnere mich an viele Reisen von Berlin ins Rheinland, wie oft ich unglücklich war, mit dem Gefühl, Zeit zu verschwenden und, schlimmer noch, nur Ärger zu kassieren, für Dinge zur Rechenschaft gezogen zu werden, die ich eh nie würde erklären können. Meine Mutter war mir gerade in der Zeit, in der ich nach Berlin gegangen war, eher fremd. Sie lag auf dem Sofa, guckte Fernsehen. Und sonst? Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Sie ärgerte sich über ihre Eltern, über ihre Geschwister, über den Chef, über Kolleginnen, später über Nachbarn oder es war ihr alles egal, oder was weiß ich. Wir hatten keine Gemeinsamkeiten und deshalb auch keine Themen. Als sie krank wurde, änderte sich das Szenario. Ich wurde gebraucht. Insofern waren die Rechtfertigungsorgien kürzer, fielen irgendwann ganz weg. Ich hatte zu tun, musste mich kümmern, eigentlich keine schlechte Zeit. Davon abgesehen, dass gerade der Beginn einer Alzheimer-Erkrankung fürchterlich für alle Beteiligten ist und eine Unordnung und ein riesiges Unbehagen in den gemeinsamen Umgang mit sich bringt. Heute denke ich, meine Mutter war im Leben, sagen wir – so lala – aber mit der Krankheit ist sie eine wirkliche Heldin geworden. Ich habe das schon öfters hier geschrieben, aber es überrascht mich doch jedesmal wieder, wenn ich mir die Wandlung vor Augen führe. Ich habe Glück gehabt. Und ich bin froh, dass meine Mutter die Gelegenheit hatte, sich noch einmal so ganz anders zu zeigen. Ob es wichtig ist? Ob sie dadurch „wertvoller“ wird? Und: darf man das überhaupt fragen? Sie ist mir auf ihre alten Tage ein Vorbild geworden, das ist eine tolle Erfahrung.