Migräne

Als ich zum ersten Mal den heiligen Eliphius von Rampillon in seiner Apsis in Groß St. Martin sah, war ich sicher, er müsse der Heilige für Migräniker sein. Ist er nicht. Dass er seinen Kopf so vorsichtig hält, hat damit zu tun, dass er als christlicher Märtyrer enthauptet wurde und nachher noch einen Weg zu seinem Grab machte, den abgeschlagenen Kopf in den Händen. Dennoch habe ich ihm mein Leid erzählt. Wie sehr ich von Kindheit an unter Migräne leide. Wie lange es gedauert hat, bis ich die Diagnose bekam, um wie vieles länger, bis ich mit den Schmerzen Frieden geschlossen habe.

„Metaphern spielen eine Rolle“ – so beschreibt Siri Hustvedt ihre Kapitulation vor den Attacken, und meint damit, dass es ihr besser ging, als sie die Migräne nicht mehr als „Feind“ begriff. Was sie als „typisch amerikanisch“ bezeichnet, gilt längst auch in Europa und ich habe meine Erfahrungen damit gemacht: Wer angesichts dieser rätselhaften Krankheit resigniert und sie als Teil des eigenen Lebens hinnimmt, wird für verrückt gehalten, als Versager oder – im heutigen Jargon – als Opfer. Auch hier wird niemand ermutigt, „Ungemach hinzunehmen“, wie Hustvedt weiter schreibt.

Die Krankheit lässt sich bislang nicht beschreiben. Dass sie zyklisch auftritt, welche Symptome häufig sind, das schon. Aber die Ausprägungen sind so verschieden, wie die Menschen, die unter Migräne leiden. Es scheint, und das ist auch meine Erfahrung, dass eine Attacke eine Ruhepause erzwingt. Hustvedt vergleicht diese Zyklen zwischen intensiven kopfschmerzfreien Zeiten und den Migränen mit dem Rhythmus bipolarer Störungen. Natürlich soll die Migräne damit nicht als psychisches Leiden kategorisiert werden. Mir ist der Vergleich plausibel, zumal ich nie größere Euphorien erlebt habe, als in den Momenten, in denen ein schlimmer Anfall abebbte.

Ob Schmerzen dabei helfen, tiefere Einsichten zu gewinnen, wage ich zu bezweifeln. Als ich noch gegen die Attacken ankämpfte, hielt mich das ins Innere geschrieene Warum? Warum? davon ab, Ruhe zu finden. Migräne geht oft mit Halluzinationen einher. Sie können „klein“ sein, und sich als Beschwerden verkleiden, wie Licht- oder Geräuschempfindlichkeit, Appetitlosigkeit, ein nicht enden wollendes Gähnen. Sie können die Sicht einschränken, merkwürdige Licht- oder Farbspuren ins Blickfeld streuen, das Körperempfinden extrem verändern, so dass man sich viel größer oder kleiner fühlt als gemeinhin, und einen so fremd in die Welt stellen, dass es wunderlich wird. In der Migräne bin ich allein. Niemand kann mich erreichen, niemand kann mir helfen. Diese Einsamkeit auszuhalten, ist eine Übung, die ich von Kind an praktiziere. Wenn das eine tiefere Einsicht ist – ? Nach der Lektüre von Siri Hustvedt’s Essay über ihren „seltsamen Kopf“ bin ich nur noch neugieriger geworden: Denn sie beschreibt so viele Nuancen ihrer Migräne, dass auch mir klar wird, wie viele merkwürdige Anwandlungen, nächtliche Farbexplosionen, Müdigkeiten, Träume ich dieser Disposition verdanke. Vor allem diese wilden Bilder, mit denen ich in den Schlaf sinke und die eben keine Träume sind, weil ich sie nur sehe, während man ja, wie Hustvedt hellsichtig bemerkt, in den eigenen Träumen als Handelnde/r im Zentrum steht, nun, vielleicht sind die Schmerzen der Preis für diese Bilder, Empfindungen, Icherweiterungen. „Andere nehmen Drogen“, so habe ich meine Migräne gelegentlich Nicht-Migränikern erklärt. Es wird davon nicht besser. Aber leichter zu ertragen.

St. Eliphius von Rampillon kann man in Groß St. Martin in Köln besuchen. Mein seltsamer Kopf: Anmerkungen zur Migräne, ist in dem Band Leben, Denken, Schauen, Reinbek 2014 von Siri Hustvedt zu lesen.

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Wer die Welt erkennen will, sollte genau hinsehen. Schon als Kind habe ich mir häufig die Augen gerieben und - wenn es sein musste - noch einmal hingeschaut. Mittlerweile arbeite ich als Journalistin und als Autorin. Auch hier ist das genaue Hinsehen, keineswegs das Schreiben, die, wenn man so will, Kerntätigkeit. Doch während ich meinen Blick bei der Arbeit fokussiere und das Gesehene zu allen möglichen Richtungen hin ausleuchte, möchte ich in meinem Blog kurze Blicke wagen. Wer zurückschaut, ist herzlich willkommen.

Comments 3

  1. Stephanie Jaeckel 11. April 2015

    Migräne ist komischerweise bis heute eine Art Tabu-Krankheit. Was dazu führt, dass sich viele damit alleine (gelassen) fühlen. Mittlerweile bin ich eine Fachfrau für meine Anfälle. Zudem gibt es bessere (oder mehr) Medikamente. So dass ich bei dringenden Terminen durchhalte. Aber ich halte nicht mehr auf Teufel komm raus durch. Ich sage häufiger ab. Und lege mich ins Bett. Sehr uncool. Aber ungeheuer erholsam.

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  2. Pingback: Sonntagsleserin April 2015 | buchpost

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