Sibylle Lewitscharoff (1954-2023)

„Wie fein die Toten hören! Zu einem Riesenohr vereinigt, segeln ihre Ohren am Himmel und überspannen ihn zu weiten Teilen. Was sich von Zungen löst, was sich in Hirnen formt, erzählte Worte, geträumte Worte, Worte ohne Klang, sie. alle werden vom Großen Totenohr. erlauscht. Es wedelt, es fächelt, es zuckt wie ein Elefantenohr im Takt zu den Lügen, Beschwörungen, Gebeten, den Sirenengesängen, Notschreien, Märchen in den Babelsprachen der Erde, es hört die Tierlaute und den Krach der Maschinen, hört das Uuuijujuio der Gibbons so präzis wie das Huuijui der. Kleinen Hufnase, hört das Schwappen der Meere und die dunkle Verzweiflung der Callas. Hört sellbst Fehlwörter. und schlampig gesprochene Silben, Wörter, die so huschig erscheinen und wieder verschwinden, dass nicht einmal wer sie geboren hat imstande ist, sie zu verstehen.

Es war einmal.

(Consumatus, 2006)

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Wer die Welt erkennen will, sollte genau hinsehen. Schon als Kind habe ich mir häufig die Augen gerieben und - wenn es sein musste - noch einmal hingeschaut. Mittlerweile arbeite ich als Journalistin und als Autorin. Auch hier ist das genaue Hinsehen, keineswegs das Schreiben, die, wenn man so will, Kerntätigkeit. Doch während ich meinen Blick bei der Arbeit fokussiere und das Gesehene zu allen möglichen Richtungen hin ausleuchte, möchte ich in meinem Blog kurze Blicke wagen. Wer zurückschaut, ist herzlich willkommen.

Comments 2

  1. Nadine Balazs 17. Mai 2023

    Ob wir wohl auch Geräuschen Sinn verleihen, so wie wir allem Sinn geben, das wir wahr-nehmen? Warum sollten die Toten mehr hören als wir Lebenden, frage ich mich, und wozu…
    Und genau, nur weil wir die Laute gebären, sind wir nicht zwangsläufig die, die sie verstehen…
    Ein anregender Text. Danke fürs Teilen.

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    • Stephanie Jaeckel 17. Mai 2023

      Für mich kommt als erstes eine Erinnerung an ein Video von Wangechi Mutu in den Kopf, wo ein riesiges wimmeldes Wesen, eher so wie ein enormer Fisch, ins Bild schwimmt und dann in tausende Einzelwesen zerspringt. Ansonsten bin ich katholisch und denke an die Heiligen und die Toten, an die nach katholischer Tradition gebetet wird. Sie sind also ganz Ohr für uns, und hören möglicherweise anders, als wir Lebenden sprechen, weil wir in der Welt stecken, sie aber nicht mehr. Und dann denke ich daran, wie oft ich selbst mir unverständliches rede, weil ich gar nicht so genau gerade weiß, was ich sagen will… – aber das sind meine Assoziationen, andere werden andere haben – dieser Absatz ist der Beginn des Buches, vielleicht (ich habe es gestern erst geholt) wird dort das riesige Ohr auch später noch eine Rolle spielen. Auf jeden Fall ist es ein tolles Bild.

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