Genieße den Moment. So werben jetzt also auch schon Kaffeetassen. Und wer sich nach einem Arztbesuch mit genau so einer Tasse in die noch kalte Sonne setzt, ist zumindest froh, den Moment überhaupt wahrzunehmen. Denn es muss ja schon wieder so viel heute. Ich frage mich: Warum lebe ich so oft haarscharf am eigenen Leben vorbei?
Im Mittelalter war es anders. Es gab keine Wecker, keine Stechuhren, und statt Terminplanern Jahreszeiten (grob gesprochen). Vielleicht taten die meisten Menschen das, was uns heute so schwer fällt: Im Augenblick sein. Das Leben bestand viel aus Handarbeit, aus Körperarbeit. Vermutlich ist man sich so schon viel öfter selbst bewusst. Schmerzen waren sicher auch mehr an der Tagesordnung. Das ganze kreatürliche Paket. Ein Leben in der Gegenwart, dieses „im Jetzt sein“ stellten sie sich damals so schlimm vor, wie die Hölle. Weil es wie ein Gefängnis war. Nie aus der eigenen Haut heraus können. Die Zukunft, und vor allem das Jenseits (ein erhofftes Leben nach dem Tod) waren Hoffnungsschimmer und Trost. Tomorrow.
Ich denke an einen Satz, den meine Mutter mir gelegentlich sagte: „Morgen ist auch noch ein Tag.“ Und der war tatsächlich ein Trost, eine Erweiterung meiner augenblicklichen Lage. Now and then in eine Balance zu bringen, scheint also ein gutes Konzept. Will sagen, ich verstehe die Idee von einer augenblicklichen Aufmerksamkeit. Aber eben auch die Flucht nach vorn.
Während ich das schreibe, entdecke ich eine tolle Spiegelung auf einer meiner Plastikmappen auf dem Schreibtisch. Ein Foto, ein Momentum. Und jetzt fange ich an zu arbeiten.
Lo 7. März 2023
Morgen ist auch noch ein Tag, sagte die Eintagsfliege.🪰
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Stephanie Jaeckel 7. März 2023
zu viel Optimismus kann einem schon mal das Genick brechen…
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finbarsgift 7. März 2023
Schöne Gedanken, die das unvermeidbare Dasein vertiefen …
LG vom Lu
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derdilettant 7. März 2023
Der schöne Kommentar von Lo macht sehr zu Recht auf die tiefere Weisheit des mütterlichen Spruchs aufmerksam: Trost ziehen wir nicht nur aus der Erkenntnis, dass – hoffentlich – auf schlechte Tage auch gute folgen, sondern dass auch unser eigenes Leben, in einen größeren Zusammenhang gestellt, an Wichtigkeit verliert und sich jegliches Leiden dadurch relativiert.
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Myriade 7. März 2023
Dazu fällt mir – nicht ganz zum Thema passend – ein, dass es in der Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit und der Begrenztheit des Lebens immer den Trost gibt, dass nicht nur das Gute sondern auch das Schlechte vergänglich ist.
Das „kreatürliche Paket“ gefällt mir als Ausdruck sehr
Ich fände es sehr interessant, was du als Kunsthistorikerin für den Ausdruck des Im Jetzt sein in der mittelalterlichen Malerei erachtet. Liebe Grüße
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Stephanie Jaeckel 8. März 2023
Deine Frage nach der mittelalterlichen Malerei ist für mich kniffelig, weil ich auf moderne und zeitgenössische Kunst spezialisiert bin. Das Mittelalter tickte natürlich anders, und ich kann da nur sehr freihändig spekulieren. Mittelalterliche Malerei ist per se meist aus der Zeit gehoben, da hauptsächlich Biblisches oder anderweitig Christliches gemalt wurde. Da war „Echtzeit“ (oder „Realität“) nicht angestrebt. Es ging um Botschaften aus der Vergangenheit (als Sinnbilder und Trost) oder aus dem Jenseits. Auch repräsentative Bilder von Herrscher*innen entsprachen – selbst wenn sie halbwegs authentisch daherkommen – der Präsentation, die ihrerseits auch wieder aus der Echtzeit herausgehoben ist. Die Idee, eine persönliche Gestimmtheit zu zeigen, gab es zunächst wohl nicht: aus dem Heilsgeschehen abgeleitet waren Trauer, Schmerz, Freude, Hoffnung, Angst und einige mehr. Erst als die Realität in die christlichen Bilder Einzug hielt und auch Porträts, Stillleben und Alltagsszenen gemalt wurden, kam ein persönlicher Ausdruck in die Malerei. Das ist jedoch, soweit ich weiß, erst nach dem Mittelalter der Fall. Umgekehrt: Dass Heiligenbilder und -figuren oft so zeitlos, so entspannt und in sich ruhend wirken, hat vermutlich mit dem anderen Zeitgefühl von Damals zu tun, in dem es eben keine Uhren oder kleinteiligen Terminkalender gab. Dinge dauerten hier so lange, bis sie fertig waren (Auftragsarbeiten natürlich ausgenommen, oder Tätigkeiten wie Ernte einbringen oder andere landwirtschaftliche Aufgaben).
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Myriade 8. März 2023
Ja, das kann ich alles nachvollziehen. Vielen Dank für die Antwort !
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