Wer bin ich? Diese Frage treibt Menschen wahrscheinlich einen großen Teil ihres Lebens um. Manche finden früh eine Antwort. Manche experimentieren. Es gibt Leute, die wollen sich nicht festlegen. Andere vertun sich, wieder andere sind lange auf der Suche.
Es ist ja auch schwierig. Auf der einen Seite wünschen sich viele ein konstantes Selbst, so wie einen inneren Kern. Auf der anderen Seite ist klar, dass wir uns beim Weiterleben unweigerlich ändern.
In den letzten Corona-Monaten hatte ich Zeit, mich selbst noch einmal – besser gesagt: immer mal wieder – genau zu betrachten. Es ergab sich ein Selbstbild, das leicht ins Resignative kippte. Viele Vorurteile (wie ich heute denke), die ich passend um ein von meiner Mutter geprägtes Bild arrangiert hatte. Durchaus nachvollziehbar: Ich ähnele meiner Mutter im Gesicht und in der Figur, ich habe von ihr die Ungeduld geerbt, ihre Stilsicherheit, ihr Sich-Nicht-Unterkriegen-Lassen.
Doch das Bild bekam Risse. Nach und nach zeigen sich Züge der Mutter meines Vaters in meinem Gesicht. Und auch, wenn meine Hände denen meiner Mutter gleichen, sind sie weicher, ganz so wie die meines Vaters. Meine Haare werden zwar grau, aber sehr langsam. Auch darin ähnele ich mittlerweile mehr meinem Vater. Das war eine Überraschung, und wenn ich ehrlich bin, zunächst eine unangenehme.
Aber dann gab es einen positiven Aspekt. Mein Vater ist sportlich, meine Mutter das glatte Gegenteil. Als Tochter meiner Mutter – naja, könnt Ihr Euch denken. Aber plötzlich drehte sich etwas. Ich fing an, regelmäßig schwimmen zu gehen. Etwas, was mein Vater sein Leben lang gemacht hat. Und ich lernte seine unglaubliche Selbstdisziplin kennen, als er nach über 70 Jahren das Rauchen von einem Tag auf den anderen aufgab. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dem Körper meiner Mutter entkommen zu können.
Mittlerweile habe ich verstanden. Meine Mutter hat mich im ewigen Ehestreit mit meinem Vater zu einer jüngeren Version ihrer selbst stilisiert. „Er liebt dich mehr als mich“ – diesen Satz verstehe ich erst heute, eben nicht als Konkurrenz zwischen Mutter und Tochter, sondern zwischen ihrem alten und jungen Selbst. Ich fühle mich freier. Denn ich habe andere Optionen als sie, die, die mein Vater mir mit auf den Weg gegeben hat. Das fühlt sich wie eine Befreiung an (obwohl das ja weiß Gott nicht unbegrenzte Möglichkeiten bedeutet), allerdings auch wie eine Versöhnung.
Und ich? Habe die Resignation erst mal beiseite geschoben. Eine Veränderung ist allenthalben spannender als ein ewiger Status quo. Und ich fürchte mich nicht mehr so sehr von den väterlichen Spuren, die mein Gesicht mittlerweile durchziehen. Ich verstehe, dass ich etwas anderes bin als das Bild, das ich mir von mir gemacht habe. Und ahne, dass da noch so einiges kommen kann.
Verwandlerin 3. Juli 2021
Das sind sehr nachdenkenswerte Zeilen. Danke dafür!
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Myriade 3. Juli 2021
Ich komme auch langsam zu der Überzeugung, dass dieser konstante Kern des „Ich“ so konstant und unwandelbar gar nicht ist. Eine Erkenntnis deren positive Aspekte für mich überwiegen
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kormoranflug 4. Juli 2021
Alle paar Jahre kommt diese Frage wieder auf. Was möchte man tun was gehört zu mir?
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