Blick in die Vergangenheit

Als Historikerin schaue ich wahrscheinlich häufiger in die Vergangenheit als viele meiner Freund/innen und Bekannten. Ich kenne so einige Welt-Vorstellungen früherer Zeiten, ohne jedoch wirklich mit ihnen vertraut zu sein. Geschichte schien mir eine Zeit lang (vor allem während des Studiums) eher langweilig (Zahlen, Zahlen, Zahlen). Mittlerweile habe ich allerdings den Schatz dieses Wissens (oder zumindest der Kenntnis) begriffen: Was andere vielleicht auf Reisen erlebt habe, konnte ich in diesen Zeitreisen lernen: Nichts ist in Marmor gemeißelt, die Dinge ändern sich. Sogar scheinbar unumstößlichste Wahrheiten.

Gleichzeitig bemerke ich eine Art Verschiebung. Die Antike scheint mir insgesamt näher zu rücken, gerade auch unter dem Stichwort Demokratie oder dem Untergang von Großreichen – um dort Parallelen zur aktuellen Lage zu finden. Das Mittelalter hingegen, mit seinem ausdrücklichen Gottesglauben und der steilen Hierarchie einer Feudalgesellschaft wird uns fremd. Das geht soweit, dass das Mittelalter – ich glaube vor ein oder zwei Jahren – als Gegenstand im Schulunterricht gestrichen oder zumindest extrem zusammengekürzt werden sollte – wie der aktuelle Stand ist, weiß ich nicht.

Eine gefährliche Idee (die Streichung ganzer Epochen aus der Geschichte, und sei es nur in der Schule), weil ja gerade die Verschiedenheit von Weltsichten eins beweist: Sie haben alle funktioniert. Und wir müssen vorsichtig sein. Natürlich erscheint das Mittelalter als dunkel, roh und wüst. Aber unsere vermeintliche Überlegenheit beweist sich ja nicht darin, dass wir offensichtliche Ungerechtigkeiten erkennen. Wir verstehen sie meist nicht wirklich, weil wir uns selten die Mühe machen, die damaligen Rechtssysteme oder sozialen Wirklichkeiten genau zu studieren. Ich will nicht behaupten, dass es im Mittelalter super korrekt zuging und alle glücklich waren, aber schon hier läge ein Missverständnis vor: Glück war damals keine Größe, schon gar kein individuelles Glück. Die Erkenntnis, wie schlimm oder ungerecht es damals war, vernebelt uns vielleicht eher die Sicht auf gegenwärtiges Unrecht und auf Missstände. Die aktuellen Rückblick auf Pest-Epidemien und den Umgang mit ihnen zeigt ja, wie ähnlich die Menschen damals reagierten, vor allem, was ihre (und unsere) Ängste angeht. Geschichte nicht als eine Erzählung des Fortschritts, sondern als Modell verschiedener Sozial- und Kultursysteme zu begreifen, und damit für gegenwärtige Aufgaben zu nutzen, scheint mir der sinnvollere Weg. Es wird Zeit, dass wir unsere Vorfahren aus dem Mittelalter nicht mehr bloß als ungebildete Deppen – meinetwegen mit vielen Muskeln und wilder Gesinnung – sehen, sondern auf Augenhöhe. Das würde, so meine Vermutung, auch einiges an der gegenwärtigen Überheblichkeit gegenüber scheinbar weniger entwickelten Zivilisationen ändern.

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Wer die Welt erkennen will, sollte genau hinsehen. Schon als Kind habe ich mir häufig die Augen gerieben und - wenn es sein musste - noch einmal hingeschaut. Mittlerweile arbeite ich als Journalistin und als Autorin. Auch hier ist das genaue Hinsehen, keineswegs das Schreiben, die, wenn man so will, Kerntätigkeit. Doch während ich meinen Blick bei der Arbeit fokussiere und das Gesehene zu allen möglichen Richtungen hin ausleuchte, möchte ich in meinem Blog kurze Blicke wagen. Wer zurückschaut, ist herzlich willkommen.

Comments 3

  1. Leinwandartistin 20. März 2020

    Dass Geschichte nicht die Geschichte der Fortschritts ist, darin stimme ich Dir vollauf zu.
    Im Gegenteil ist diese Art von Geschichtsbetrachtung Ausgangspunkt und Legitimation für Überheblichkeit, Kriege, Mord – wenn die einen denken, sich über die anderen erheben zu dürfen, weil sie eben „fortschrittlicher“ seien und meinen, andere „rückständige“ Völker zum „Fortschritt“ erziehen zu müssen/dürfen.
    Freilich, als Kind im Osten habe ich auch diese Art von Geschichtsschreibung gelernt, danach ging es ja von der Urgesellschaft immer weiter und weiter, voranschreitend, bis hin zu Kapitalismus, Imperialismus, Sozialismus, Kommunismus … Das habe ich erst im Verlaufe meines Studiums zu hinterfragen gelernt.

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  2. flowerywallpaper 22. März 2020

    Stephanie, ja, Geschichte zu „verstehen“ ist nicht mit einer Episode abgetan. Funde, originale Aufzeichnungen und Ausschmückungen von Dichtern, wo auch etwas einer gefühlten Wahrheit drinsteckt. Ich habe gerade dieses Jahr einiges gelesen was man sich so alles unter Mittelalter vorstellt 1100, 1600. Ist alles eigentlich nicht Mittelalter. Aber alles was vor der Aufklärung so daherkommt klingt nach Mittelalter. Alles, was mit Glauben zu tun hat ist mit dem heutigen Denken kaum fassbar. Das normale Leben, also dort wo nichts festgehalten wurde, kämpfte ums Überleben. (im letzten Roman, Ehefrau stirbt mit 33 Jahren und hatte 13 Kinder geboren. Vier verstarben an Pest.) Es war alles mit Gott, Dämonen, Geister und Teufel zu erklären. Ich hör auf sonst schreibe ich noch die ganze Nacht. Ciao, Ernestus

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