Wer eine Reise tut, hat viel zu erzählen. Aber eben auch viel, zum drüber nachdenken. Mir ging das so bei fast allen Stationen meiner Amerika-Reise. Weil ich Dinge sah, die auf andere Lebensentwürfe hinwiesen, weil ich an Orten war, die tatsächlich andere Anforderungen stellten oder (für mich) neue Ideen bereithielten. Pleasant Hill, ein verlassenes, aber für Übernachtungsgäste weiter betriebenes Shaker-Dorf in Kentucky war ein solcher Ort, der mich berührt, verunsichert und aufgeweckt hat, so anders waren dort die Vorzeichen für ein gutes Leben, so vermeintlich altmodisch wie überraschend modern.
Vor der Hand ist die Geschichte der Shaker nichts anderes als die einer der vielen religiösen Gemeinschaften, die im Laufe der Jahre an ihren eigenen Maßstäben zerbrachen. Wer wie sie zum Beispiel Sexualität verbietet, auch wenn Männer und Frauen gemeinsam leben und arbeiten, mag sich nicht wundern, wenn der Nachwuchs ausgeht. Grund für Häme ist das nicht. Denn die Shaker waren zu ihrer Zeit – und eben auch (Überraschung) zur heutigen Zeit – modern. Nicht nur, was ihr Design angeht, das es locker mit den theoretisch gut fundierten Bauhaus-Entwürfen aufnehmen kann, sondern vor allem mit ihrer Ablehnung der Ehe, der daraus resultierenden Gleichberechtigung von Männern und Frauen und einer tief verwurzelten Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen.
Kein Sex und keine Kinder zu haben, war möglicherweise ein zu hoher Preis, um diese Gleichheit zu leben. Im relativ prüden 19. Jahrhundert jedoch die naheliegende Lösung, wo Polygamie, bzw. ein Zusammenleben in größeren Verbänden, denn in zwei-Personen-Ehen, wie damals bei verschiedenen indigenen Gruppenüblich, undenkbar war. Die daraus resultierende Idee, Waisenkinder aufzunehmen, ihnen ein Zu Hause zu geben, war – wie ich finde – ein kluger und zutiefst humaner Schachzug, der jedoch mit der Einrichtung staatlicher Waisenhäuser (wenn ich mich richtig erinnere) obsolet wurde.
Der für mich entscheidende Punkt war jedoch die Arbeitsmoral. Es wurde viel gearbeitet, und durchaus gerne. Die Shaker produzierten mehr, als ihre Nachbarn, sie waren fortschrittlich, was Technologien anging, sie hatten natürlich auch mehr Ressourcen, weil sie nicht nur Frauen als volle Arbeitskräfte einsetzten, sondern Arbeit auch so verteilten, dass die Fähigkeiten der einzelnen berücksichtigt wurden. Vor allem ließ man sich Zeit für die Arbeit. Nicht um zu trödeln, sondern um zu bestmöglichen Ergebnissen zu gelangen. Wobei der Maßstab nicht Wirtschaftlichkeit, sondern Qualität war. Interessanterweise ein Modell, das funktionierte: Bis heute werden Shaker-Möbel, die zwar nicht mehr von „waschechten“ Shakern hergestellt werden, sondern nur noch nach deren „Rezepten“, für Höchstpreise verkauft. Was bedeutet, dass es offensichtlich genug Käufer/innen für solche Produkte gibt. Gegenstände, die für nicht weniger als für die Ewigkeit gemacht werden, also nicht nur für mich, sondern auch noch für meine Enkel und Urenkel. Altmodisch und nachhaltig zugleich, wir fangen ja gerade erst wieder an, uns solchen Konzepten zu nähern.
Für mich steht hier noch eine ganz andere Nachhaltigkeit im Vordergrund. Die meiner eigenen Arbeitszeit: „Do it once and do it well“. Wer so arbeitet, gilt heute als hoffnungsloser Idealist. Und als Looser in einer Zeit, in der alles schnellstmöglich erledigt wird, in der die Maxime „80% reichen auch“ erstes Gebot ist und alle, die 100% anstreben als „Perfektionisten“ degradiert werden. Doch ist es keineswegs eine Charakterschwäche, Dinge möglichst gut machen zu wollen. Geschenkt, in unserer aktuellen Arbeitswelt, in der Zeit nur Geld ist, wird sich diese Haltung nicht durchsetzen. Aber wir müssen umdenken. Und hier sehe ich die Chance, dass solide Arbeit wieder einen Wert bekommt gegenüber dem möglichst schnell Erledigten. Für mich ein Anstoß, mich weniger drängeln zu lassen. Natürlich kann ich mir keine Endlosarbeitzeiten leisten. Termine sind eine Realität, und werden es in meinem Leben bleiben. Aber dieser kurze Aufenthalt in Pleasant Hill zeigt mir, dass mein Wunsch nach 100% nicht ganz so dämlich ist, wie mir oft eingeredet wurde. 100% sind schlicht und ergreifend nachhaltig. Und damit zutiefst menschlich.
Ruhrköpfe 4. November 2019
Hallo Stephanie. Danke für den spannenden Einblick! 🙂
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Maren Wulf 4. November 2019
So wohltuend, dein Text. Ja, es ist nachhaltig, gut zu arbeiten. Und es macht zufrieden, gut zu arbeiten. Wenn man weiß, dass man mehr als 80 Prozent geben kann, können 80 Prozent wenig sein, mögen sie für andere auch noch so sehr „reichen“.
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finbarsgift 4. November 2019
Immer 100 Pro zu sein, zu leben, zu arbeiten kann überfordern, kann wehtun, kann krankmachen, sogar zu Herzinfarkten, zum unnötig frühzeitigem Tod führen …
90 Pro ist ein guter Kompromiss 🙂
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Stephanie Jaeckel 9. November 2019
Hm. Ja und nein, würde ich sagen. Die eigene Entscheidung, alles sofort so gut wie eben möglich zu machen, erleichtert nach meiner Erfahrung den Arbeitsverlauf. Ich muss nicht „einfach mal anfangen“ oder „mal gucken“ oder „mal probieren“, ich fange eben an. Und wenn – bei welcher Arbeit auch immer, das Fundament gut gelegt ist, wird auch die Weiterarbeit leichter. Ich muss nirgendwo korrigieren (oder eben nur da, wo mir wirklich Fehler unterlaufen), ich kann aufarbeiten, ich kann mich auf mich verlassen. Ich muss auch nicht immer fragen „wird es gut genug?“. Es sind natürlich meine 100%. Das kann für eine/n Kund/in oder Auftraggeber/in immer noch zu wenig sein. Dann wird es schwierig und passt am Ende wahrscheinlich nicht (oder es gab ein Missverständnis). Was ich meine: Die eigenen 100% sind eine Entscheidung, die mir das Arbeitsleben erleichtern. Ein frühzeitiger Tod war übrigens noch nie etwas, was ich gefürchtet habe – ?!
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finbarsgift 9. November 2019
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