Die Sprache der Wirklichkeit

„Das neue Alphabet“, so heißt das aktuelle Ausstellungsprojekt am Haus der Kulturen der Welt, das dieses Jahr startet und bis 2021 nach neuen Sprechhaltungen sucht und neuen Darstellungsformen für eine sich rasant veränderte Wirklichkeit. Ein enorm anregendes, wenn auch anstrengendes Projekt: ich war gestern dort und habe gemerkt, dass interaktive Ausstellungen – und im HKW wird den Besucher/innen tatsächlich mehr abverlangt als ein paar Momente des aufmerksamen Betrachtens – deutlich fordernder sind, als ein gemütlicher Besuch in konventionellen Schauen. Vor jedem neuen Exponat bin ich angesprochen, erst mal zuzuhören, zu lesen, zu schauen und dann vielleicht Kommentare zu hinterlassen, etwas auszuprobieren oder mit meiner Begleitung oder Leuten, die gerade neben mir stehen ins Gespräch zu kommen (und wenn es nur die Frage nach einem Stift ist).

Für Sprache, so lerne ich in dem launigen (weil improvisierten) Vortrag von Luc Steels (KI-Forscher und Komponist) braucht es einen Lebenshintergrund. Was banal klingt, entpuppt sich übrigens als heillos komplex, wenn man versucht, Robotern das Sprechen beizubringen: wie nämlich baue ich dem Roboter einen Lebenshintergrund??? Und auch für uns lebendige Wesen zeigt sich, was wir oft genug vergessen: Unsere Leben ändern sich, weil die Welt sich ändert. Wir schreiben aber weiterhin nach Regeln, die vor langer Zeit aufgestellt wurden. Wäre es nicht Zeit, etwas zu ändern? Auch beim Schreiben von Literatur (sollte die Gattung Bestand haben) auf ein neues Alphabet zuzugreifen?

Eigentlich plane ich für die Klunker einen Beitrag über Jean Siméon Chardin. Ein französischer Maler, der im 18. Jahrhundert die erstaunlichsten Stillleben malte. Er gilt als eine der Urväter der Moderne, denn er konzentrierte sich nicht mehr auf die Gegenstände an sich, sondern auf die Art, wie er sie sah. Das war neu in der Malerei und Chardin malte Bilder, dies seine Zeitgenossen begeisterte und uns heute, wenn wir den Kniff erst begriffen haben, zum Staunen bringen (nein, das stimmt so nicht ganz: Staunen können wir auch, ohne den Kniff zu kennen, aber wir staunen noch mehr, wenn wir ihn verstehen).

Bei Foucault („Das Leben der infamen Menschen“) bin ich auf einen wichtigen Aspekt gestoßen, denn er beschreibt wie ab dem 17. und dann vor allem im 18. Jahrhundert sich in der Literatur etwas ändert: er sagt, „Die Fiktion hat seitdem das Fabelhafte ersetzt“ und meint (verkürzt gesagt), dass sich die neu entstehende Gattung des Romans vom Abenteuer ablöst (alle vorangegangenen Texte der Erbauungsliteratur – Gedichte ausgenommen – haben sich bis daher an „fabelhaften“, nicht unbedingt „realen“ Welten abgearbeitet, während der Roman in die „Wirklichkeit“ stößt und beansprucht, den Menschen im Alltäglichen (wenn eben auch in einem stark strukturierten Alltäglichen) zu zeigen.

Bei Chardin scheint etwas ähnliches zu geschehen: Er malt aus dem Alltag der Menschen und plötzlich sind seine Bilder „hipp“. Er setzt sich – in seiner Zeit ein außergewöhnliches Ereignis – gegen die Historienmaler durch, die weiterhin fabulieren – mit toten Hasen und einfachen Tontöpfen.

Zugegeben, das ist alles ein bisschen verschlungen, und am Ende komme ich nur dahin, wo „Das neue Alphabet“ ansetzt, nämlich bei der zunächst banal daherkommenden Erkenntnis: Sprache braucht einen Lebenshintergrund. Oder umgekehrt: Ein veränderter Lebenshintergrund braucht eine neue Sprache. Für mich als Texterin wird noch einmal klarer, warum ich mich mit dem Schreiben immer wieder so schwer tue. Nicht, weil es an sich ein schwieriges Geschäft ist. Sondern weil ich in einer Umbruchszeit lebe, in der alte Muster nicht mehr passen. Egal, ob ich hier im Blog schreibe, oder ein anderes Format wähle. Stets suche ich nach neuen Worten, Sätzen, Melodien. Kein Grund zur Panik. Im Gegenteil. Dem Anfang wohnt bekanntlich ein besonderer Zauber inne…

Die Eröffnung für „Das neue Alphabet“ läuft noch heute im Berliner Haus der Kulturen der Welt.

Michel Foucault, Das Leben der infamen Menschen, Berlin 2001 (1. frz. Aufl. 1977)

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Wer die Welt erkennen will, sollte genau hinsehen. Schon als Kind habe ich mir häufig die Augen gerieben und - wenn es sein musste - noch einmal hingeschaut. Mittlerweile arbeite ich als Journalistin und als Autorin. Auch hier ist das genaue Hinsehen, keineswegs das Schreiben, die, wenn man so will, Kerntätigkeit. Doch während ich meinen Blick bei der Arbeit fokussiere und das Gesehene zu allen möglichen Richtungen hin ausleuchte, möchte ich in meinem Blog kurze Blicke wagen. Wer zurückschaut, ist herzlich willkommen.

Comments 14

  1. frauhemingistunterwegs 13. Januar 2019

    Auf der „Arbeit“, also in der Schule stoße ich mir täglich den Kopf an dieser Umbruchsituation, weil Schüler mir völlig selbstverständliche Wörter nicht mehr verstehen. Das ist manchmal traurig, oft aber auch komisch, wenn zum Beispiel in einem romantischen Gedicht „die Nachtigallen schlagen“ und dann als ungewöhnlich aggressive Vögel interpretiert werden.

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    • Stephanie Jaeckel 13. Januar 2019

      Das ist wirklich witzig, beschreibt aber nicht ganz den Vorgang, den ich meine. Nachtigallen sind ja nicht ausgestorben. Im Gegenteil. In Berlin zumindest haben sie eine Menge Bäume gekapert. Dass „schlagen“ für das, was sie zwitschern, nicht mehr bekannt ist, liegt daran, dass das Wort altmodisch geworden ist, nicht daran, dass wir keine Nachtigallen mehr hören…

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  2. Ulli 13. Januar 2019

    Ich glaube, dass auch das Schreiben, so ist wenigstens meine Erfahrung, sich von selbst verändert, sich neue Formen sucht und sich neuer Wörter bedient, so sie sich im Innen bilden. Nur eins ist und bleibt mir wichtig: ich möchte verstanden werden.
    herzliche Grüße
    Ulli

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    • Stephanie Jaeckel 13. Januar 2019

      Ja und nein, würde ich sagen. Natürlich unterliegen wir alle Zeitströmungen. Und damit auch unsere Äußerungen. Aber ich halte Schreiben nach wie vor für eine reflexive Tätigkeit. Wenn ich nicht für „den Gebrauch“ texte, sondern ein bestimmtes vorgegebenes Format bediene – oder mit einer neuen Form experimentiere (selten genug), denke ich über die Sprechhaltung nach, wer ich bin oder sein kann, von wo ich schreibe, warum und wen ich adressiere. Alles das schließt „Verstanden werden“ ein, denn nur wenige Texte funktionieren, die sich aus dieser Selbstverständlichkeit (was sonst sollte Sprache sein als eine Verständigung) ausklinken. Und auch ich bin an diesem Schreiben nicht interessiert. Aber wie schreibe ich zum Beispiel als eine Europäerin im 21. Jahrhundert. Ich meine, da sind mehr Fallstricke drin, als man sich auf den ersten Blick auch nur vorstellen kann. Und damit meine ich nicht bloß die oberflächlichen Forderungen einer political correctness. Es geht um viel mehr: um Wahrheit. Oder pathetisch gewendet: Wahrhaftigkeit.

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      • Ulli 13. Januar 2019

        Wahrhaftigkeit ist für mich nicht pathetisch, wenn ich wahrhaftig schreibe, dann schreibe ich „ehrlich“ von dem was ich wahrnehme und spüre aus der Tiefe heraus. Wahrheit hingegen betrifft ein anderes Feld, von ihnen gibt es nur wenige, wahr ist, dass Tag und Nacht einenander folgen, dass am Morgen die Sonne aufgeht und am Abend unter … um es mal ganz profan auszudrücken. Es ist ja kein Geheimnis, dass zwei Menschen in einem Raum zur selben Zeit nicht das selbe wahrnehmen und es von daher keine wahre Schilderung der Situation geben kann, nur zwei wahrhafte.
        Zu den Fallstricken und vielem anderen stimme ich dir zu.

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        • Stephanie Jaeckel 13. Januar 2019

          Ich bin, was Wahrheit angeht, extrem vorsichtig. Wenn wir sie der Subjektivität preisgeben, sind wir näher an den Fake News, als uns lieb sein kann. Wahrheiten sind nicht in Stein gemeißelt. Sie können sich ändern. Alle Wissenschaftler/innen der Welt können Lieder davon singen. Bleiben aber, so hoffe ich zumindest, der Wahrheit verpflichtet. Wenn wir andere Lebewesen betrachten würde ich es so formulieren: Was wir mit unseren zwei kleinen Augen, den Ohren, unserer Nase usf. wahrnehmen, und durch unser Gehirn zum nachdenken schicken, zielt, wenn wir – oder eben die Wissenschaftler/innen keine anderen Absichten haben, auf Wahrheit. Das wünsche ich mir jedenfalls für meine verbleibende Lebenszeit hier (und im Grunde natürlich weit darüber hinaus).

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          • Ulli 13. Januar 2019

            Ich stimme dir zu und halte es für mich auch nicht anders. Und doch geht im Jetzt und Hier die Sonne am Morgen auf und am Abend unter 🙂

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  3. wechselweib 13. Januar 2019

    Sehr interessante Denkanregungen! Ich merke das mit dem Umbruch auch, zum Beispiel, wenn es in Schulbüchern unter dem Kapitel „Menschenrechte und Frieden schaffen“ um „Auslandseinsätze“ geht, die beharrlich nicht „Krieg“ genannt werden. Als ich Schülerin war, war es noch undenkbar, dass wir uns an einem Krieg beteiligen und 1990 sagte unter Geschichtslehrer begeistert, nun breche eine große Friedensepoche an. Tja, so ändern sich die Zeiten.

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    • Stephanie Jaeckel 13. Januar 2019

      Die „Auslandseinsätze“ haben einen konkreten Grund. Die Bundeswehr beteiligt sich nach wie vor nicht an direkten Kriegshandlungen. Deutsche Soldaten werden nirgendwo an die Front geschickt. Sie stehen immer in zweiter, dritter Linie, um logistische Aufgaben zu übernehmen oder die Kämpfenden an der Front zu unterstützen. Tatsächlich handelt es sich dabei um Einsätze in Kriegen, jedoch ist kein Soldat dort unterwegs, um explizit andere Soldaten zu töten. Andere Menschen schon gar nicht. Man mag auch das für einen Euphemismus halten, denn wer im Krieg zu tun hat, führt eben auch Krieg. Aber das ist der Grund für die Wortwahl, die in diesem Sinn eben auch korrekt ist.

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      • Ulli 13. Januar 2019

        Hier ein Zitat aus dem Buch „Egon Schiele“ von Patrick Karez – er löste es tatsächlich mit Punkten. Sorry, dass ich mich einmische, aber das hat mich jetzt doch auch interessiert.
        Nun aber das Zitat:“Drei Männer. In der Zwickmühle. Innerlich zerrissen. Zwischen Verpflichtung. Und Vergnügen. Drei Männer. In Dreiecksbeziehungen. Egon Schiele. Zwischen Ehefrau. Und Geliebter. Ein Mönch. Zwischen Gott. Und einem Schüler. Ein Diplomat. Zwischen Ex-Ehefrau. Und Geliebter. Alle drei. Drohen daran zu zerbrechen. Denn man kann nicht zwei Herren dienen. Und zwei Frauen. Schon gar nicht.“
        Ich schrieb einmal einen Text ohne Punkt und Komma hier: https://cafeweltenall.wordpress.com/2016/02/01/ohne-punkt-und-komma-1-lampionfisch/
        Es verlangt der Leserin/dem Leser doch viel ab, aber ein Versuch war es wert und Spaß hat es auch gemacht, Atemlosigkeit eingeschlossen 🐻

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  4. Franz Firla 14. Januar 2019

    Aus „Serotonin“ von Patrick Karez hier auf wordpress:

    „Im wahrsten Sinne des Wortes. Frage ich mich. Warum es in Deutschland und in Österreich keinen einzigen Journalisten (der offiziellen, staatlichen oder staatstreuen Medien) mehr gibt. Der zum Beispiel schreibt: „Donald Trump/Vladimir Putin/Bashar al-Assad/etc. ist ein Arschloch, ABER…“. Denn irgend etwas Gutes müßte doch an jedem Menschen zu finden sein. Sogar an einem Politiker. Aber nein. Sie sind allesamt Arschlöcher. Und Punkt. Und die Masse kaut es dann unreflektiert nach. Und wider. Wie dumme Schafe. Wie eine Masse. Hypnotisierter Kaninchen. Ohne die großen Zusammenhänge zu kennen. Ohne sich eigentlich wirklich für die großen Zusammenhänge zu interessieren. Denn es ist ja auch viel einfacher so. Einfach nachzuplappern. Was die Journalisten (der offiziellen, staatlichen oder staatstreuen Medien) so von sich geben. Denn das wird schon stimmen. Nun. Meine Eltern sind in der ehemaligen CSSR großgeworden. In der ehemaligen Sowjetunion. Haben sie mir eines fürs Leben beigebracht: „Traue keinem! Auch dem Staat nicht! Mach‘ Dir immer ein eigenes Bild von der Sache!“ Und das tue ich. Zugegeben. Ist es viel schwieriger so. Aber es lohnt sich. Und ich kann es jedem Menschen nur ans Herz legen. Natürlich. Ist es nicht angenehm. Gegen den Strom zu schwimmen. Und als einziger in einer Diskussionsrunde zu sagen: „XYZ mag vielleicht ein Arschloch sein, ABER…“.

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