Der doppelte Warhol

„Drella“ sollte die Ausstellung ursprünglich heißen, die heute in der Berliner Neuen Nationalgalerie eröffnet. Drella war der Spitzname Warhols unter Factory-Kolleg*innen, eine Mischung aus Dracula und Cinderella: die beiden Seiten des Tag und Nacht arbeitenden Superstars, die dunkle und die helle, darin sehr viel Schein und noch mehr Scham.

Andy Warhol war zu einer Zeit schwul, in der Liebe von Männern zu Männern noch strafbar war. In einer Zeit, den 1980er Jahren, in der in der das traurige Bonmot von Oscar Wilde „Every man kills what he loves“ mit AIDS tödliche Realität wurde, und in der es zumindest anfangs so scheinen konnte, als würden Männer für ihre „Perversität“ von der „Natur“ bestraft.

Der jetzige Titel „Velvet Rage and Beauty“ zielt genau auf diese Scham, einer von jenen Ausgestoßenen der Gesellschaft zu sein, gleichzeitig die Schönheit hochzuhalten, das – damals als allgemein schmutzig angesehene – schön zu machen. „I never met a person I couldn’t call a beauty” ist einer der Sätze, die genau an diese Stelle weisen, ungeachtet unserer Vorstellung von Warhol als Porträtist der Glamour-Welt, der nur darauf aus war, die Schönen und Reichen seiner Zeit noch schöner und reicher wirken zu lassen. Ganz eindeutig Dracula, der Blutsauger. Andy liebte Geld. Wahrscheinlich auch eine Seite seiner Scham – und die dicke Wand, mit der er sich vor Verfolgung von Seiten der Gesetzgebung schützte.

Cinderella dagegen lernen wir gleich zu Beginn der Ausstellung kennen, jenen jungen Künstler, zart und empfindsam wie ein scheues Mädchen, das sich mit Schwärmereien für Filmstars den Alltag in Pittsburgh schönträumt und mit zarten, dennoch präzise gesetzten – und gleich am Anfang schon künstlerischen, weil verdoppelten – Linien für sich, und später auch für zahlendes Publikum – einfängt.

„Blotted Lines“ nennen Kunstkritiker später übrigens diese besondere Technik: dort wird mit Tusche gezeichnet, und zwar schnell, so dass die noch nasse Zeichnung mit einem leeren Blatt Papier, das wie Löschpapier auf das erste Blatt gelegt wird, abgenommen und damit spiegelverkehrt gedoppelt werden kann. Aus eins mach zwei. Aus authenisch eine Kopie (ich war’s nicht, ich habe nur abgekupfert…). Andy aus Pittsburgh wird noch während seines Studiums dort Meister dieser Technik.

Vor der Hand sehen wir in der Neuen Nationalgalerie eine Ausstellung, in der Andy Warhol als schwuler Mann und Künstler gezeigt wird, erstmals so fokussiert, so direkt, ohne Feigenblatt anderer Bildmotive oder Themen. Und das ist natürlich gut so. Doch geht es eben weniger ums verspätete „Coming-out“ Warhols, wie erste Rezensionen heute titeln, sondern mehr um die Fluidität, um das Dazwischen, das Warhol Zeit seines Lebens faszinierte. Das Doppeldeutige, die zwei Seiten, übrigens auch sein lebenslanger Wunsch, jemand anderes zu sein, zum Beispiel Edie Segwick, eine junge Frau aus reicher Familie, die am Warholschen Lifestyle in der frühen Factory zugrunde ging, und die düstere Dracula-Seite von Andy in der Öffentlichkeit prägte.

Als er 1975 sein Buch „The Philosophie of Andy Warhol, from A to B and back again“ veröffentlicht, trägt das Vorwort den bezeichnenden Titel: „How Andy puts his Warhol on“. Von „from A to B“ einmal abgesehen, ist hier schon ganz offen die persönliche Zerrissenheit Warhols, aber eben auch die Zerrissenheit als existentielle Erfahrung Thema. Andy Warhol war mehr, als ein Popkünstler. Dass er im Katalog zur Ausstellung erstmals (soweit ich weiß) als neurodivers bezeichnet wird, ist möglicherweise auch ein Schritt zu einer neuen, tatsächlich grundsätzlicheren Deutung. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob neurodivers tatsächlich den Kern eines introvertiert extrovertierten Außenseiters trifft.

Wer Schwierigkeiten mit der Darstellung schwuler Sexualität hat, wem plakative, weit ins pornografische greifende Fotos, Filme oder anderweitige Darstellungen abschrecken oder ekeln, sollte die Ausstellung nicht besuchen. Wer Kinder mitnehmen will, sollte wissen, dass es explizit wird. Dennoch habe ich mehr gesehen als das Ringen um eine Selbstverständlichkeit im – damals eben noch künstlerischen, längst noch nicht öffentlichen – Raum. Zum Beispiel die unglaubliche Nähe von Erotik und Langeweile. Die Warhol stets zeigt, und ihn damit weit weg vom immer wieder vorgeworfenen Kommerz stellt. Toll ist, wie in der Nationalgalerie Filme, Fotos, die hinreißenden Zeichnungen, Siebdrucke, Collagen die Vielseitigkeit und eben auch die Neugier Warhols – fernab von jeder Thematik – zeigen. Oder auch die Wandelbarkeit eines Künstlers, der von den 60er Jahren bis zu seinem Tod 1987 immer an der Spitze der internationalen Künstler*innenriege stand. Mein eindeutiges Votum: Hingehen: Es lohnt sich!

Das Foto ist abfotografiert. Das Original stammt von David McGabe (1964)

Die Ausstellung Andy Warhol – Velvet Rage and Beauty läuft bis zum 6. Oktober 2024 in der Neuen Nationalgalerie Berlin

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Wer die Welt erkennen will, sollte genau hinsehen. Schon als Kind habe ich mir häufig die Augen gerieben und - wenn es sein musste - noch einmal hingeschaut. Mittlerweile arbeite ich als Journalistin und als Autorin. Auch hier ist das genaue Hinsehen, keineswegs das Schreiben, die, wenn man so will, Kerntätigkeit. Doch während ich meinen Blick bei der Arbeit fokussiere und das Gesehene zu allen möglichen Richtungen hin ausleuchte, möchte ich in meinem Blog kurze Blicke wagen. Wer zurückschaut, ist herzlich willkommen.

Comments 4

  1. LP 8. Juni 2024

    Ich bin jetzt gerade ein ganz klein wenig neidisch und finde es schade, dass Berlin nicht mal eben so ums Eck ist. Mit wehenden Fahnen wäre ich sonst in dir Ausstellung gerannt.
    Ein Katalog wird helfen müssen, das zu kompensieren.
    Danke für den Hinweis.

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    • Stephanie Jaeckel 9. Juni 2024

      Der Katalog ist dank der Interviews eher gut, zumindest war das mein erster Eindruck. Die Abbildungen können natürlich die Originale nicht wirklich ersetzen, zumal die frühen Zeichnungen, die ich so liebe. Aber auch Polaroids sehen anders aus, als wenn sie abfotografiert sind. sie haben auf eine ulkige Art und Weise ein stark materielles Eigenleben…

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