Eine glückliche Kindheit ist das Fundament eines guten Lebens. Soweit die einhellige Meinung. Ich hatte keine glatt glückliche Kindheit. Solange ich mich erinnern kann, wollte ich erwachsen werden, um der Kindheit zu entkommen. Ich bin mittlerweile erwachsen. Mir kommen Zweifel.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich möchte jedes einzelne Kind auf dieser Welt glücklich sehen. Das ist nicht der Punkt. Ich möchte auch nicht für eine strengere Erziehung einstehen. Aber ich sehe (bei mir, bei anderen, keineswegs bei allen): Wer keinen Grund hat, sich an eine rosige Kindheit zu erinnern, ist ab einem gewissen Alter weniger nostalgisch. Keine Hits aus den 80ern oder 90ern, um ein sehr banales Beispiel zu nehmen, sondern aktuelle Musik oder eben Jazz oder Klassik oder. Die Wachheit in der Gegenwart bleibt, ebenso die Neugier auf die Zukunft. Aus dem Gefühl heraus: Das Beste kommt noch. Keine Enttäuschung beim Erwachsenwerden, keine Trennung kann – je nachdem – so schlimm sein, wie das, was in der Kindheit war. Das Klischee, ältere Leute (also die in meinem Alter) würden eher zurück- als nach vorne schauen, wäre an dieser Stelle scharf zu überdenken.
Was ich meine: Die glückliche Kindheit wird nicht überbewertet. Dafür aber die unglückliche. Ich spreche ausdrücklich nicht über traumatische Erlebnisse, fürchterliche Bedingungen. Sie sind die Hölle. Aber sie haben Aspekte, die wir übersehen: Wer eine schlimme Kindheit hatte, kann sie zumindest hinter sich lassen. Und: weil er oder sie weiß, wie schlimm es werden kann (glückliche Menschen kennen viele Abgründe ja erst mal gar nicht), ist die Angst vor dem Absturz nicht irreal. Und es gibt möglicherweise das Bewusstsein, Schlimmes überstehen zu können. Und die Sehnsucht nach etwas Besserem (als den Tod zum Beispiel). Wir sehen Menschen mit unglücklicher Kindheit gerne als geschwächt und damit als vorbestimmte Verlierer. Aber es gibt zumindest diesen Aspekt, dass sie sehr, sehr stark oder zumindest sehr widerstandsfähig sein können. Das ist ein Pfund, mit dem ich heute wuchern kann. Ich bin keine Verliererin und war es nie. Ich habe sehr früh in Abgründe geschaut. Eine enorme Überforderung. Ein schmerzhafter Prozess. Aber heute, in meiner erwachsenen Welt auch ein Pluspunkt. Wäre das der Anfang einer neuen Erzählung über Glück und Unglück. Und über vermeintlich ungerechte Verteilungen?
wattundmeer 19. November 2019
Sehr interessant, liebe Stephanie. So ganz insgeheim habe ich auch schon lange gedacht, dass eine nicht so glückliche Kindheit stark machen kann. Und man nicht automatisch zu den Verlierern gehören wird. Wer früh lernt, sich zu distanzieren und das Verhalten anderer zu analysieren, wird später viel besser mit Schwierigkeiten umgehen können. Davon bin ich überzeugt.
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mynewperspective 19. November 2019
Schließe mich an. Genauso empfinde ich es auch.
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Stephanie Jaeckel 20. November 2019
Das ist ein schwieriges Terrain. Ich weiß, wie wichtig es auf der einen Seite ist, eine miese Kindheit erst mal „anerkannt“ zu bekommen. Denn es gibt natürlich unendlich viel, was fehlt. Wer dann sagt, hier ist aber auch mindestens ein Pluspunkt, wird gerne und schnell als zynisch missverstanden. Insofern kann ich da nur von meiner eigenen Erfahrung sprechen. Die ist tatsächlich eher positiv. – Ach so, und ja! Distanzierung ist ein wichtiger Punkt. Ich wusste früh, dass ich alleine klar kommen müsste. Sicher hart, aber doch auch sehr „lebensnah“…
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wechselweib 19. November 2019
Ganz tolle Gedanken. Ich stimme dir voll und ganz zu. Und bin befremdet, wenn Menschen in meinem Bekanntenkreis, ihre Unsicherheiten usw. immer noch mit dem Verhalten ihrer Mütter damals erklären. Erwachsensein heißt Verantwortung für sein eigenes Kebrn zu übernehmen. Und das bedeutet eben auch eine große Freiheit.
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wechselweib 19. November 2019
Sein eigenes Leben muss es natürlich heißen.
Ich sehe in deinem Kommentarkästchen manchmal nicht, was ich tippe…
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Stephanie Jaeckel 20. November 2019
Ja, haha, Freiheit. Großes Wort. Große Herausforderung. Und längst nicht bloß „ich mache nur, was ich will“. Eigenes „Kebrn“ ist aber auch schön…
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